Sie haben schon Karten für die Gezeitenkonzerte bestellt und überlegen, ob Sie wirklich alles für Sie Relevante aus den 32 Angeboten herausgezogen haben? In einigen Beiträgen werden wir Ihnen in den kommenden Wochen vor Festivalbeginn am 16. Juni einige Gezeitenkonzerte vorstellen, die Sie vielleicht noch nicht auf dem Zettel hatten, die sich aber unserer Meinung nach dennoch lohnen.
Die Künstler vom Notos Quartett haben vor kurzem auf sich aufmerksam gemacht, da sie die ersten waren, die ihren ECHO Klassik Preis zurückgegeben haben. Bekommen hatten sie ihn als Nachwuchskünstler des Jahres 2017. Ihre Begründung dazu war sehr klar, gut nachvollziehbar und mutig. Meinen Respekt haben sie immer noch, denn auch ich bin der Meinung, dass man „rassistischem, menschenverachtendem und antisemitischen Gedankengut“ keine Auszeichnung zukommen lassen sollte. →Weiterlesen… “Was Sie sich nicht entgehen lassen sollten: das Notos Quartett”
Nachtmusiken mit Matthias Kirschnereit in Völlen | Part I
Endlich Sommer in Ostfriesland! Unser Motto von diesem Jahr scheint sich allmählich zu rentieren. Vor dem Konzert in Völlen hatten wir eine richtig gute Zeit, denn der Ort ist schön, die Luft ist gut, und die Kirche ist von hohen Bäumen umgeben, die überall angenehmen Schatten spenden. Auch von innen ist sie sehr für Kammerkonzerte geeignet, ich saß ganz hinten an der Tür und hatte immer noch einen tollen Hörgenuss.
Mit hoher Erwartung sind alle angereist, denn dieses Konzert war eigentlich gar nicht vorgesehen. Das eigentliche Konzert findet erst am Donnerstag statt, doch die Nachfrage war so groß, und wir waren so schnell ausverkauft, dass wir dieses Zusatzkonzert eingerichtet haben. Vielen Dank an die flexible Kirchengemeinde Völlen und unseren Star des Abends, Matthias Kirschnereit, die dies ermöglicht haben. Auch dieses Gezeitenkonzert war wieder komplett ausgebucht. →Weiterlesen… “Atemlos durch die Nacht”
Regen, nichts als Regen. Den ganzen Tag schon. Nach dem furiosen Eröffnungskonzert schien es eher trübe weiterzugehen. Nach dem Aufbauen waren alle bereits sehr durchnässt und wärmten sich mit heißem Kaffee im warmen und trockenen Gut Horn auf. Eigentlich schade, dass man diesen wundervollen Ort nicht bei Sonnenschein genießen konnte. Vielleicht ja im nächsten Jahr?
Schneller als man denkt, beginnt der Einlass, alsbald ist es 20:00 Uhr, und die Musik kann losgehen. Begonnen wurde mit einem Duett von Mozart in G-Dur, eigentlich für Violine und Viola, heute in einer Fassung mit Violoncello. Wunderschön, keine Frage. Mozart kommt immer gut. Doch zufällig spiele ich dieses Stück auch gerade mit einer Bratschistin, mehr oder weniger erfolgreich. Aber trotzdem: Da musste doch noch mehr kommen! →Weiterlesen… “Kometeneinschlag im Gut Horn”
Auch am bislang heißesten Tag des Jahres, Samstag, 19. Juli, gab es ein Gezeitenkonzert. Spielort war diesmal der freigeräumte Ausstellungsraum bei Pollmann & Renken (Wintergärten, Fenster, Türen etc.) im Schirumer Gewerbegebiet kurz vorm Ems-Jade-Kanal bei Aurich. Vielfach wurden wir im Vorfeld noch telefonisch gefragt, ob es denn dort eine Klimaanlage gab. Einige ältere Herrschaften riefen an und gaben ihre Plätze wieder frei, weil sie sich bei 36° Celsius nicht vor die Tür trauten. Die Klimaanlage gab es nicht, wohl aber ein Erdwärme-System, das auf angenehme Art und Weise für Innentemperatur etwa zehn Grad unter der Außentemperatur sorgte. Wir waren begeistert.
Wenn sich der Fußball schon bei allen Adjektiven der Kunst bedient („virtuoser Ballkünstler“, „filigraner Techniker“), holen wir doch mal einen der strapaziertesten Begriffe der letzten Woche zurück in die Kunstrezension: das „Team“. Und alles was dazu gehört: „Team-Arbeit, Team-Zusammenhalt, Team-Geist, Team-Denken usw. usf..
Kammermusik ist Team-Arbeit, wer weiß das nicht? Aber in Zeiten des besonderen Team-Denkens kann man das gerne mal betonen. Kratzt das Violoncello blöd rum, kann die Violine nichts Schönes leisten. Sind die Einsätze, Pausen, Dynamik, Melodienführungen nicht gemeinsam abgestimmt, wird’s nichts beim Wettbewerb. Und leider hat auch die Kunst ihre Turniere und Wettkämpfe.
Gutes Essen ist auch eine hohe Kunst. Felix Mendelssohn Bartholdy muss ein Genießer dieser Kunst gewesen sein. Immerhin lautete die Abmachung mit Heinrich Baermann und dessen Sohn Carl: „Carl kocht Felix’ Leibgericht Rahmstrudel und Dampfnudel, dafür komponiert Felix den beiden ein Concertino für Klarinette, Bassetthorn und Klavier.“ (zitiert nach Brenken, Ulf: Abendprogramme. Das Gesamtwerk. Band 14. Hamburg 2014)
So ist das komponierte Werk auch mit allerlei kulinarischen Geschmacksverstärkern versehen. Die Widmung lautet: „Die Schlacht bei Prag! Ein großes Duett für Dampfnudel oder Rahmstrudel, Clarinett und Bassetthorn.“
Ertönt in einer Kirche eine der Violoncello-Suiten von Johann Sebastian Bach, geht der Blick automatisch nach oben ins unendliche Firmament. Diese sakral-schöne, formvollendete, strenge, aber immer einladende Musik hält wie ein Gebet die Zeit an.
Was hätte der alte Meister, der da oben vermutlich auf seinem Orgelbänkchen sitzt und den Engelchor mit neuen Chorälen versorgt, zu Nils Mönkemeyer gesagt? Mönkemeyer, der spät von der Geige zur Bratsche wechselte, spielt dieses Werk auf eben diesem Instrument. Eine Frechheit? Nein, eine Liebeserklärung. Mönkemeyer ist Bach verfallen. Das zeigen seine CD-Einspielungen, seine Interviews, seine Fernsehauftritte. Warum also nicht die berühmtesten Bach-Stücke auf dem Instrument spielen, das es immer noch so schwer hat neben Geige und Cello?
Ein Blick von Mönkemeyer ins Publikum reicht und es ist so still, dass selbst die Reepsholter Kirchenmaus Twitter und Facebook mal ausschaltet und sich konzentriert.
Der entscheidende Satz (gesprochen, nicht vertont!) fiel ganz am Ende. Tief hatten Sharon Kam (Klarinette), ihr Bruder Ori Kam (Bratsche) und Matan Porat (Klavier) in der Repertoirekiste für diese ungewöhnliche Besetzung gewühlt und ein wunderbares Programm zusammengestellt. Aber: für die Zugabe blieb kein Stück übrig. Wie kann man das ändern? Ganz einfach, man lässt sich ein Stück schreiben. So scherzte Sharon Kam; aber so selbstbewusst, dass alle Komponisten mit den Ohren zucken müssen.
Matan Porat, selber renommierter Komponist, dürfte jedenfalls aufgehorcht haben. „Nächstes Jahr“, sagte Sharon Kam, käme man dann mit dem neuen Stück wieder. Das ist doch eine Ansage. Dreimal hat sie in den letzten zwei Jahren in Ostfriesland gespielt. Zwei davon bei den Gezeitenkonzerten der Ostfriesischen Landschaft. Ein leeres Versprechen für die schnelle Publikumsbefriedigung hört sich anders an. Wir dürfen also sehr gespannt sein.
Nach dem riesigen Applaus wollten sich die Musiker aber trotzdem beim Publikum bedanken und spielten noch einmal den schnellsten Satz von Max Bruchs „Acht Stücken“. Der Applaus von 380 Besuchern brandete in der ausverkauften großen Kirche Arle auf.
Begonnen hatte das Konzert ähnlich spektakulär mit Mozarts Kegelstatt-Trio. Klarinette, Viola, Klavier – das ist nicht gerade eine geläufige Zusammensetzung. Vor allem die Bratsche und die Klarinette stechen sich für gewöhnlich aus. Das sagte Sharon Kam am Ende auch: Eigentlich bestehe diese Besetzung quasi aus Klavier, Bratsche, Bratsche. Und sagt: „Ich bin eine Bratsche“. Aha, Klavier und zwei Bratschen also. Wie gut, dass es nicht so klang. Sonst hätte man nicht Sharon Kams einzigartig weichen, schwingenden Klang vernommen, der schon letztes Jahr in Reepsholt die Leute so verzaubert hatte, dass sich bereits zur Pause eine lange Autogramm-Schlange bildete.
Es ist immer wieder erstaunlich, die Gezeitenkonzerte mit den Nebenstars aus der Instrumentenfamilie mit zu erleben. Wie wunderbar auch diese in Erscheinung treten können, zeigt Mozarts Kegelstatt-Trio, eine 22 minütige Liebeserklärung an seine drei Lieblingsinstrumente. Das Besondere an diesem Werk ist (neben der Besetzung) die absolute Gleichwertigkeit der Instrumente, die in einen Dialog treten, in dem niemand vorlaut oder dominierend auftritt. Einander ebenbürtig und „voller gegenseitiger Achtung und Zuneigung“ (Ulf Brenken) entwickeln die drei ein inniges Gespräch, mit einem wehmütigen Grundton, schattig verhangen. Wobei „entwickeln“ das falsche Wort ist. Denn auch die formale Ebene ist so ungewöhnlich, dass eine thematische Entwicklung im ersten Satz kaum stattfindet. An manchen Stellen scheint die Musik fast auf der Stelle zu treten, die drei interessieren sich plötzlich nicht mehr für Form und Zeit(-geist) und verweilen in ihrem eigenen Kosmos. 1786, Neue Innigkeit. 2013, immer noch berührend. Und gibt es eine bessere Zusammensetzung als die Geschwister Kam für dieses Stück? Wobei auch Matan Porats Spiel in der Pause hochgelobt wurde. Ein fantastisches Trio.
Inniger, romantischer, phantastischer, geheimnisvoller wurde es in Schumanns „Märchenerzählungen“, vier knappen Stücken. Auch hier wird das Trio wieder zum Experimentierfeld und die drei Musiker haben das Publikum da längst für sich eingenommen.
Nach der Pause (deutlich frischer Wind auf dem Kirchhügel) ging die Entdeckungsreise weiter. Frisch wirkte auch Kurtágs Hommage an Schumann, beseelt von allen modernen Kompositionsmöglichkeiten, inklusive Hand im Klavierkörper.
Achja. Zeit für das Fashion-Intermezzo. A propos frisch. Mode und Musik haben ja manchmal doch miteinander zu tun. Sharon Kam trug ein strahlend grünes Kleid. Kam sehr gut an. Nichts gegen schwarz, aber etwas Farbe ist immer gut. Auch das sollte hier mal geschrieben werden. Intermezzo ende.
Mit Bruchs „Acht Stücken“ für diese Besetzung endete der Abend fulminant, noch ganz in der Romantik des 19. Jahrhunderts versunken, wunderbare Charakterstücke, mal schwermütig, dann wieder ausufernd wild. In Arle erlebten wir einen Abend voller Ausnahmen und drei echten Ausnahmekünstlern. Und wer weiß, im nächsten Jahr gibt es dann eine Uraufführung bei den Gezeiten?!
Das hat man dann davon: Kaum zeigt man Interesse am persönlichen Besuch des Emder Abschlusskonzertes, schon wird man als harmloser Programmhefttexter der Gezeitenkonzerte in der Konzertpause verpflichtet, einen Blogbeitrag zu verfassen. Macht man natürlich gern, denn Wibke Heß und Simon Hopf können einen auf so ‘ne bestimmte Art überzeugen…
Morgens also Autofahrt von Hamburg nach Emden. Um 11 Uhr war „Öffentliche Generalprobe“ in der originellen Spielstätte, der Johannes a Lasco Bibliothek. Kaum zu glauben, dass dieses Mahnmal bis 1995 vor sich hin rottete, bevor es zu diesem Schmuckkästchen werden konnte! Knapp zweihundert Besucher nutzten die Gelegenheit des kurzfristig angesetzten Zusatzangebotes und erlebten eine konzertähnliche Durchspielprobe mit anschließenden Korrekturen. Das abendliche Konzert und auch schon die Generalprobe wurden von NDR Kultur mitgeschnitten, was auch vom Publikum gesteigerte Disziplin erforderte. Knapp drei Stunden (inklusive Pause) dauerte die Vormittagsveranstaltung, was nicht alle Besucher bis zum Ende durchhalten mochten. Manche aus eher bizarren Gründen wie ablaufende Parkuhren…
Abends durfte ich dann für meine Freikarte (Danke, Wibke!) beim Vorbereiten des Konzertraumes helfen, später sogar hilfsweise Eintrittskarten kontrollieren und das Programmheft verteilen. (Ein seltsames Gefühl, wenn der eigene Text so unter die Konzertbesucher gelangt!)
Hilko Gerdes, Vizepräsident der Ostfriesischen Landschaft, hielt eine kurze, fast schon launige Eröffnungsrede aus Anlass des Abschlusskonzertes. Dann legten sie los: Das etwa dreißig Musikerinnen und Musiker starke Kurpfälzische Kammerorchester (KKO) aus Mannheim mit seinem Dirigenten Ivo Hentschel. Sie spielten zu Beginn einen „unechten“ Salieri – weil der die Sinfonia „Veneziana“ aus eigenen Werken gar nicht selbst zusammengebastelt hatte.
Matthias Kirschnereit, in einer Person Künstlerischer Leiter der Gezeitenkonzerte, Familienvater mit Wohnsitz in Hamburg und weltweit tätiger Pianist, obwohl es ihn wirklich nur einmal gibt, hatte es sich nicht nehmen lassen, im Abschlusskonzert als Solist des Mozart-d-Moll-Konzertes aufzutreten. Es war faszinierend zu hören, wie sich Solist und KKO nach nur wenigen Proben aufeinander eingestellt hatten, um auf hohem Niveau miteinander zu musizieren. Zum Dank für den anschließenden Riesenapplaus des begeisterten Publikums bot Matthias Kirschnereit eine Zugabe von Claude Debussy, dessen 150. Geburtstag in dieses Jahr fällt: „Mouvement“ aus den „Images“, ein sehr motorisch angelegtes Virtuosenstück, „weil alles wie bei den Gezeitenkonzerten auch zukünftig in Bewegung bleibt“, wie sich der Künstlerische Leiter dazu einleitend äußerte.
Das war aber noch nicht alles – denn nach der schön langen Konzertpause, in der die „Haasen“, wie man das Haase Catering hier augenzwinkernd zu bezeichnen pflegt, mit ihrem tollen Angebot an Essen und Trinken für beste Auffrischung nicht nur des Flüssigkeitshaushalts sorgten, hielt Matthias Kirschnereit eine kleine Ansprache, in der er seine Position zur aktuellen Festivalsituation in Ostfriesland darstellte und sich unter dem Beifall der 450 Konzertbesucher eine „friedliche Koexistenz“ mit dem Musikalischen Sommer in Ostfriesland wünschte, da über allem die Kunst, speziell die Musik, und ihre Weitergabe stehen möge.
Danach traten das KKO und Ivo Hentschel erneut auf den Plan. Diesmal spielten sie die eher unbekannte „Prager Sinfonie“ (Nr. 38) von Mozart, die mich auch aufgrund ihrer Meisterschaft in jeder Sekunde (und das ist wörtlich gemeint!) ungeheuer beeindruckt hat. Das lag natürlich zu einem großen Teil auch an den Interpreten, die den Schlusssatz noch eine Spur schneller angingen als bei der vormittäglichen Generalprobe. Alle fünf Wiederholungen innerhalb der drei Sätze wurden gespielt! Als musikliebender Zuhörer kann ich nur meinen größten Respekt zollen und mich bedanken für einen spannenden Konzertabend, der das Publikum hörbar (weil unhörbar) konzentriert in seinen Bann zog.
Matthias Kirschnereit, der sich die „Prager“ auch anhörte, machte einen mehr als zufriedenen Eindruck, so dass mein einheimischer Sitznachbar mir zuflüsterte: „Der fühlt sich wohl hier!“
Der ausdauernde Beifall „zwang“ Ivo Hentschel und das KKO zu einer Zugabe: Man spielte den Presto-Schlusssatz aus Mozarts Sinfonie Nr. 28 (KV 200), der wie ein glitzerndes Feuerwerk die diesjährigen Gezeitenkonzerte beendete. Tatsächlich ein Abschlusskonzert vom Feinsten!
Nachts also Autofahrt zurück nach Hamburg. Und bei aller Liebe für die schönste Stadt der Welt, die ich eigentlich nicht ohne Not zu verlassen bereit bin, habe ich mich doch während der Rückfahrt bei dem Gedanken ertappt, dass es leider ein bisschen zu weit ist, um mal eben im faszinierenden Ostfriesland aufzukreuzen und diese besonderen Menschen dort noch öfter zu besuchen. Das hat man dann davon…
Ulf Brenken
Anmerkung von Wibke: Der Text wurde nicht verändert; ich habe mir lediglich erlaubt, die Fotos hinzuzufügen!