Gleich neben der Manningaburg, in der ein Museum zur ostfriesischen Häuptlingsgeschichte untergebracht ist, liegt die Nicolai-Kirche, ein Saalbau mit polygonalem Chor aus dem 15. Jahrhundert. 1862 bekam sie neue Außenwände und ein Westportal, bei dem eine Arkade des ehemaligen Lettners aus dem 15. Jahrhundert Verwendung fand sowie eine Inschriftenplatte, datiert 1541. Der neben der Kirche stehende Glockenturm hat ebenfalls eine neue Ummantelung.
Der Innenraum ist seit 1862 von einer gewölbten Holzdecke überzogen.
In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Kircheninnere umgestaltet. Das Kirchengestühl wurde ersetzt. Eine schlichte Altar-Mensa steht nun an Stelle des ehemaligen Flügelaltars im Chor, der wahrscheinlich abgängig war.
Die spätgotische Sakramentsnische mit ihrem rot-weiß gefassten Spitzbogen und dem Sternenmuster im Giebel entstand im 15. Jahrhundert. In solchen Nischen, die meistens in die Nordwand des Chores eingelassen waren, wurden, durch Gittertüren gesichert, die geweihten Hostien fürs Abendmahl aufbewahrt. →Weiterlesen… “Nicolai-Kirche Pewsum”
Gezeitenblog
Gezeitenkonzert mit Top-Cellist Julian Steckel in Buttforde
Julian Steckel sagt über die Bach-Suiten, es sei, als halte man eine Predigt. Für ihn ist es „eine der intensivsten Erfahrungen, die man in einem Konzert haben kann“ (s. Interview mit Karin Baumann in den Ostfriesischen Nachrichten, auch hier im Gezeitenblog). Dass er dieses Erlebnis dann gleich in einer St. Marien-Kirche zelebrieren kann, passt! Zurzeit probt der junge, gut aussehende Mann für sein Gezeitenkonzert bei uns im Preußenzimmer in der Ostfriesischen Landschaft. Leider hinter verschlossenen Türen, sodass nichts zu uns in die Büros dringt.
Julian Steckel ist einer der besten Cellisten seiner Generation. Nachdem er vor drei Jahren den ersten Preis des Internationalen ARD Wettbewerbs verliehen bekam, gab es im letzten Jahr noch den begehrten ECHO Klassik obendrauf. Neben seiner regen Konzerttätigkeit ist er Professor für Violoncello an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock. Seine aktuellste CD zusammen mit dem fantastischen Paul Rivinius am Klavier mit Werken von Prokofiev und Rachmaninoff, eine Koproduktion mit BR Klassik, war gleich CD der Woche bei mehreren Radiostationen. Mit dem Cello-Spiel begann Julian Steckel im Alter von fünf Jahren und hatte lange Unterricht bei Ulrich Voss, bevor er bei Gustav Rivinius, Boris Pergamenschikow, Heinrich Schiff und Antje Weithaas studierte. Er ist zu Gast bei den wichtigsten Festivals in Deutschland und darüber hinaus. Morgen spielt Julian Steckel beispielsweise gemeinsam mit Lauma, Baiba und Linda Skride unter der Überschrift “Perfekte Symbiose” beim Schleswig-Holstein Musikfestival.
Auf seinem Programm heute Abend stehen drei der sechs Bach-Suiten, über die Ulf Brenken schreibt, dass diese zu dem Hervorragendsten, was an Kompositionen für dieses Streichinstrument geschaffen wurden, gehören. Jede der sechssätzigen Suiten ist im Detail so unterschiedlich und vielseitig wie die parallel entstandenen sechs Solosonaten und –partiten für Violine und die berühmten sechs Brandenburgischen Konzerte. Besonders die weiblichen Chormitglieder der Vocalisti Rostochienses wären gerne auch bei diesem Gezeitenkonzert dabei gewesen.
NDR Kultur hat sich als Medienpartner der Gezeitenkonzerte aus mehreren Vorschlägen schnell dieses Konzert ausgewählt und wird es mitschneiden. Im kleinen Örtchen Buttforde für den großen Ü-Wagen einen Platz zu finden, ist gar nicht so einfach. Glücklicherweise unterstützt uns die Dorfgemeinschaft dort tatkräftig, hilft, wo sie kann und weist z. B. die Parkplätze an. Überhaupt hat sich in Buttforde in diesem Jahr schon viel getan. Als wir im Winter der Einladung vom Ortsvorsteher Henning Bernau gefolgt waren und uns das Örtchen angeschaut haben, war er noch ganz traurig, dass die Sträucher noch nicht so beschnitten waren und die Arbeiten an der Alten Schule noch nicht begonnen hatten. Lassen Sie sich überraschen, wie Buttforde sich gemausert hat. Die einzigartige Richborn-Orgel in der Kirche wurde nach umfangreichen Restaurierungsarbeiten jedenfalls Ende Januar feierlich eingeweiht. Wir bedanken uns an dieser Stelle schon einmal für die tolle Unterstützung im Vorfeld und freuen uns auf einen schönen lauen Sommerabend mit wunderbaren Celloklängen in Buttforde.
Mauritius-Kirche Horsten
Das Dorf Horsten liegt auf einem nordöstlich in die tiefer gelegene Marsch hineinragenden Geestsporn und eigentlich hätte es keinen künstlich aufgeschütteten Hügel gebraucht, um die Kirche vor dem bei Sturmfluten die Marsch bedrohenden Wasser zu schützen, wie es hier in Form von sogenannten Warfen bei allen Siedlungen der Fall war, ehe sich ein geschlossenes Deichband an der Küste entlang zog. Der hohe Kirchhügel wurde also aufgeschüttet, um der Kirche eine herausragende Stellung zu geben. Im 13. Jahrhundert, als sie gebaut wurde, errichtete man keine hoch aufragenden Kirchtürme, sondern brachte die Glocken, wie auch hier in Horsten, in abseits stehenden, niedrigen Glockenstühlen unter, die oft zuerst aus Holz bestanden.
Der Kirchenbau in seiner beeindruckenden Höhe ist ein Apsissaal. Er stammt aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und wurde aus Backsteinen auf einem Sockel aus Granit errichtet. Vorher stand hier, das haben archäologische Untersuchungen ergeben, eine hölzerne Kapelle, ein rechteckiger Bau von etwas geringeren Ausmaß und etwa zweieinhalb Meter tiefer gelegen. Den romanischen Ursprung der Kirche kann man an der Nordseite mit ihren rundbogigen Fenstern noch gut erkennen, auch an der Apsis, die jedoch 1786 erhöht wurde.
Der Raum ist wohl nie überwölbt gewesen, sondern hat immer eine flache Holzdecke gehabt. Das ehemalige Gewölbe der Apsis zog man bei ihrer Veränderung 1786 bis zur Decke hinauf.
Es fällt auf, dass sich in früheren Jahrhunderten die Menschen in Horsten sehr um ihre Kirche und damit um ihr eigenes Seelenheil gekümmert haben. Viele der Inventarstücke sind Stiftungen.
Das Altarretabel, das auf einer steinernen Mensa steht, zu der zwei Stufen hinaufführen, entstand 1666. 1684 stifteten „Johan Wessels und dessen Hausfrau Agata Margareta Deckers“ die Kniebänke „Gott zv Ehren vnd seiner Kirchen zvm Zierrat“. Der Altaraufsatz, dessen Künstler man nicht kennt, zeigt zwischen schwarz-grauem Schleierwerk das Abendmahl und darüber die Kreuzigung. Am Tisch sitzen die Apostel, von denen man meinen könnte, Charakterköpfe aus der Gemeinde hätten dem Maler dazu Modell gestanden. Die Gewänder der Personen im Vordergrund mit ihrem farbenfrohen Faltenwurf, die Weinkanne, der Kerzenleuchter und der Kelch auf dem Tisch – alles zeugt von barocker Darstellungsfreude. Im Hintergrund der Kreuzigungsszene, die, im Gegensatz zu vielen anderen Kreuzigungsdarstellungen, nur Jesus am Kreuz zeigt, sind die Mauern Jerusalems zu sehen und dahinter ein runder Tempel mit Kuppel. Hier könnte es sich um den Tempel Salomons handeln, also um einen Rückblick auf das Alte Testament.
An der Nordwand hängt eine hölzerne Tafel, auf der in mittelniederdeutscher Sprache des 16. Jahrhunderts der kleine Katechismus (die zehn Gebote – mit dem Calvinistischen zweiten Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen –, das Glaubensbekenntnis, der Taufbefehl und die Einsetzungsworte) geschrieben steht. Unten rechts und links stehen die Figuren von Martin Luther (Dr. ML) und Philipp Melanchthon (PhM). Dieser sogenannte Schriftaltar stammt aus der Zeit bald nach der Reformation und hatte seinen Platz auf der Altarmensa. Die Reformatoren verbannten die Bilder aus den Kirchen und stellten dafür das Wort Gottes und die Lehren der Kirche in den Mittelpunkt des Gottesdienstes. Abendmahls- und Kreuzigungsaltäre wurden bei den Lutheranern weiterhin geduldet. Während die Calvinisten bei ihrer Bilderächtung blieben, zogen in die lutherischen Kirchen wieder Bildaltäre ein, allerdings bleiben die Heiligen, die den Katholiken als Mittler zwischen Gott und dem Gläubigen dienen, draußen. Dargestellt wurden vorwiegend Geburt, Leben und Passion Jesu. Von den vorreformatorischen über 100 Altären und 200 bis 300 Nebenaltären im ostfriesischen Raum blieben nur noch 17 Hauptaltäre bzw. Altarfragmente in den Kirchen stehen.*
Rechts und links der Apsis stehen zwei Priechen. Die linke ist der „Beichtstuhl und Prediger Stand“ von 1698. Rechts befindet sich der Kirchenstuhl „des wohl löblichen Ostfriesischen Dritten Standes Administrator“ Otto Bley. Er kam 1730 in die Kirche. Dieser Otto Bley war von 1724 bis 1734 Administrator der Ostfriesischen Landschaft und gehörte dem Stand der Bauern an. Seine Nachkommen waren Pächter des königlichen Horster Grashauses, des damals größten Bauernhofes Ostfrieslands mit etwa 250 ha Land. Seine Enkel stifteten ihm 1773 eine Gedächtnistafel, die an der Südwand hängt. 1993 fand man auf dem Friedhof eine Grabplatte, die nun ebenfalls an der Südwand steht. Sie trägt die Inschrift: „Erbare und vorneme Heinrich Hillers Bley Ehr und tugensame Trinke Weiers seligen Heinrich Hillers Hausfrau“. Das könnten die Vorfahren von Otto Bley gewesen sein. Von den schönen Kronleuchtern aus Messing stammt der größte laut Inschrift von 1732 und wurde von Otto Bley gestiftet. Auch die anderen drei Leuchter aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind sicher Stiftungen von Gemeindemitgliedern. Der zierliche hölzerne Taufständer ist ebenfalls eine Stiftung, laut Inschrift von Iohan Wessels 1696.
Die Kanzel mit ihrer langen Säulengalerie stammt aus der Werkstatt der Esenser Holzschnitzerfamilie Kröpelin. Sie wurde vom Vater Jacob 1655 geschaffen. Er und seine Söhne Johann und Hinrich haben in Ostfriesland im Laufe des 17. Jahrhunderts zahlreiche Altäre und Kanzeln geschaffen. Am Kanzelkorb ist in der Szene der Auferstehung das Monogramm „IK“ des Meisters zu sehen.
Die Orgel baute Samuel Schröder aus Jever. Sie wurde 1731-33 gebaut und ist die einzige dieses Orgelbaumeisters in Ostfriesland. 1985 wurde sie in der Orgelwerkstatt Alfred Führer rekonstruiert und gründlich instand gesetzt. Dabei befreite man das Orgelgehäuse von späteren Farbfassungen, sodass der prächtige barocke Orgelprospekt nun wieder zur Geltung kommt.
Text: Monika van Lengen
*Marwede, Herbert R.: Vorreformatorische Altäre in Ost-Friesland. Phil. Diss. Hamburg 2006
(Weitere Informationen zur Kirche finden Sie in dem in der Kirche ausliegenden Faltblatt.)
Ev.-luth. Mauritius-Kirche Horsten
Kirchstraße
26446 Friedeburg-Horsten
Peter-und-Paul-Kirche Völlen
In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstand die Saalkirche mit vieleckigem Chor am Nordende des Ortes. Die ältere Gemeindekirche lag am südlichen Ende des Dorfes und an der Stelle der heutigen Kirche stand laut Überlieferung eine Kapelle. Die alte Kirche wurde dann 1556 „nedergewurpen“, wie es in der „Cronica der Fresen“ von Eggerik Beninga (+1562) heißt „und den Volleners die ander darmede to vorbeteren togestaen“. * →Weiterlesen… “Peter-und-Paul-Kirche Völlen”
Gezeiten-TV im Gespräch mit Jörg Widmann
Der Komponist und Klarinettist Jörg Widmann stellte sich kurz vor dem Gezeitenkonzert am Samstag, 13. Juli 2013, zusammen mit dem neophon ensemble in der Kunsthalle Emden, den Fragen von Matthias Adelmund für Gezeiten-TV.
Vorher gab es einige Versuche einer Anmoderation. Diese sehen Sie hier:
Ausgezeichnetes Rheingold Trio in Völlen
Das Kombiprogramm mit vier Gezeitenkonzerten hintereinander (Donnerstag bis Sonntag) ist ein intensives Stück Kultur. Wenn man als Gezeitenteam an allen Tagen aktiv dabei war, muss man am Sonntagabend erst einmal durchatmen und rekapitulieren, was da alles passiert ist. Das Gute in diesem Jahr ist, dass der Sonntagabend tatsächlich noch genutzt werden kann und man nicht um Mitternacht erschöpft zuhause ankommt. Die neue Regelung, die Konzerte am Sonntag bereits um 17:00 Uhr zu beginnen, ist für alle Beteiligten ein großer Vorteil. Bis auf zwei enttäuschte Konzertbesucher, die um halb acht kamen, waren auch alle pünktlich, konnten das Konzert genießen und verließen beglückt die Kirche, als die Sonne noch schien.
Auch das Rheingold Trio konnte so wieder zeitig abreisen und musste nicht wie Jörg Widmann eine kurze Nacht im Hotel verbringen und dann um 5:00 Uhr morgens den Zug nehmen.
Das Rheingold Trio ist ein junges Ensemble, das aus dem Geschwisterpaar Bettina und Robert Aust (Klarinette und Klavier) und Lydia Pantzier (Fagott) besteht. Sie sind Preisträger und Stipendiaten aus der Bundesauswahl Konzerte Junger Künstler des Deutschen Musikrates. Die vergangenen Konzerte mit dem Duo Jeanquirit, dem Mariani Quartett oder den Brüdern Gerassimez haben gezeigt, dass aus dieser Riege aufregende junge Künstler stammen, die bislang jedes Publikum mitgerissen haben.
Nicht anders war es gestern in Völlen. Mit Pantziers Fagott kam ein besonderer Klang in die Kirche. Zunächst gab es Michail Glinkas „Trio pathétique d-Moll für Klarinette, Fagott und Klavier“ (1832), ein Stück, das vermutlich wegen der ungewöhnlichen Besetzung nicht so häufig zu hören ist und eben darum spannend war.
Danach bewies Robert Aust, der unter anderem bei Matthias Kirschnereit studiert hat, dass Beethovens Klaviersonate Nr. 25 G-Dur op. 79, gar nicht im Schatten der legendären Sonaten des Spätwerkes stehen muss.
Dass die beiden Geschwister auf ein jahrelanges Zusammenspiel bauen können, zeigte der gesamte Abend. Hinzu kommt ein Fagott, das in Camille Saint-Saëns „Sonate G-Dur op. 168 für Fagott und Klavier“ aus dem Jahr 1921 seine Möglichkeiten als Solo-Instrument unter Beweis stellt. „Ich verwende meine letzte Kraft darauf, das Repertoire der sonst so vernachlässigten Instrumente zu erweitern“, schrieb der Komponist zu seinem letzten vollendeten Werk.
Schön, dass dieser spezielle Klang in diesem Jahr bei den Gezeiten erklingen konnte. Das Publikum zeigte sich begeistert und so gab es als Zugabe noch den „Winter“ aus Astor Piazzollas „Vier Jahreszeiten“.
Nach der „Sternstunde der Moderne“ (siehe Karin Baumanns Rezension in den ON) in Emden, dem meisterhaften Klavierabend mit Matthias Kirschnereit in Holtgaste, dem fantastischen Gipfelstürmerkonzert mit Lilit Grigoryan und Alexandra Conunova-Dumortier in Bargebur ein toller Abschluss mit dem Rheingold Trio in Völlen. Zumindest für dieses Wochenende. Donnerstag geht es mit dem ECHO Preisträger Julian Steckel weiter. „Den darf man sich nicht entgehen lassen“, sagte ein Besucher in Emden. Wir sind schon sehr gespannt!
Ein Porträt des Künstlers als außergewöhnlicher Mann
Wenn man von etwas keine Ahnung hat, sollte man, frei nach Wittgenstein, eigentlich gepflegt den Schnabel halten. Nun zwingt mein Boss mich aber, einen Blogeintrag zu schreiben. Was soll man machen? Jörg Widmann und das neophon ensemble in der Kunsthalle Emden – das ist für alle, die sich für Neue Musik interessieren, eine ganz hohe Hausnummer. Und so fand sich gestern in der Kunsthalle ein Publikum zusammen, das genau wusste, was sie erwartete. Extra aus Hamburg kamen Gäste in das voll besetzte Konzert, um den berühmten Künstler live zu erleben.
Und damit wären wir dann eigentlich bei Adorno und seinen „Typen musikalischen Verhaltens“. Wenn ich mich nicht täusche, konnte man gestern wirklich von GUTEN Zuhörern sprechen. Was macht gute Zuhörer aus? Dazu Adorno: „Auch er [der Gute Zuhörer] hört übers musikalisch Einzelne hinaus; vollzieht spontan Zusammenhänge, urteilt begründet, nicht bloß nach Prestigekategorien oder geschmacklicher Willkür … Er versteht Musik etwa so, wie man eine Sprache versteht, auch wenn man von der Grammatik und Syntax nichts oder wenig weiß, unbewußt, der immanenten musikalischen Logik mächtig.“
Ich kann hier zwar nur rein äußerliche Kriterien anführen, aber die sind schon überzeugend: Begeisterter Applaus nach jedem Stück; eine konzentrierte und aufmerksame Stimmung, 98 % kamen nach der Pause wieder zurück und am Ende hörte man einige von einem „absolut faszinierendem Abend“ sprechen. Das lag sicherlich auch am neophon ensemble, eine Truppe junger Musiker, die sich neuer Musik verpflichtet haben und dies mit einer imponierenden Leidenschaft verfolgen.
Wie soll man nun die Musik beschreiben, ohne ihr möglicherweise Unrecht zu tun? Muss man Musikwissenschaft studiert haben oder zumindest Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ gelesen haben, um sich über diese Musik kennerhaft zu äußern? Oder reicht es aus, einfach von Musik zu sprechen, die „wie ein Sog ist“ (so liest man auf Widmanns Homepage)? Die Frage für mich ist: gibt es überhaupt die Sprache, diese Musik zu beschreiben? Ich werde mich hier gewissenhaft der intellektuellen Verantwortung entziehen und hoffe, dass mein Boss zufrieden ist, wenn ich ganz schlicht (und blöd?) schreibe: „Mit den Ohren denken“ – das trifft auf diesen Abend zu.
Also bleiben wir bei den äußeren Kriterien: Die Kunsthalle war natürlich der perfekte Ort für dieses Künstlerporträt. Widmann spielte selbst seine „Fantasie“ (1993) und bei den übrigen Stücken, die einen Querschnitt durch sein Werk zeigten (1993-2010), spielte das ensemble in wechselnder Besetzung und erntete für seine Interpretationen großen Applaus. Für die jungen Musiker war es sicherlich ein Traum, mit Anfang 20 mit Jörg Widmann spielen zu dürfen. Auch wenn die Anreise für sie nicht so schön war (es gab einen kleinen Unfall mit dem Auto), werden sie sich bestimmt noch lange an diesen Abend erinnern.
Halten wir fest: ein großer Abend, spannend, eklektisch, verwirrend, außergewöhnlich, und ganz sicher wiederholungsbedürftig.
Stürmische Gezeiten
Lilit Grigoryan war meine persönliche Entdeckung des letzten Jahres. Matthias Kirschnereit hatte im Vorfeld einiges von ihr erzählt, und als mir diese energiegeladene junge, hübsche Frau bei der Langen Nacht in Landow auf Rügen begegnete, war ich wirklich fasziniert. Es war eine Freude, ihr beim Klavierspiel zuzuschauen und zu lauschen. In Wiegboldsbur konnte sich dann auch unser Team von meinen Schilderungen überzeugen. Alexandra Conunova-Dumortier begegnete mir indirekt kurz nach den Gezeitenkonzerten 2012, als sie Fan der Facebook-Seite wurde. Als ich Matthias fragte, ob er sie kenne antwortete er sofort: „Ja, die möchte ich auch gerne mal nach Ostfriesland holen!“ Kurz darauf durfte ich mich intensiver mit ihr beschäftigen, denn da hatte sie den ersten Preis des Internationalen Joseph Joachim Violinwettbewerbs der Stiftung Niedersachsen gewonnen, den wichtigsten und höchstdotierten Preis für dieses Instrument. Zuvor hatte bei uns im Landschaftsforum Ju-Ni Lee, eine Teilnehmerin des Wettbewerbs „Zu Gast in Niedersachsen-Konzert“ gastiert, sodass wir natürlich neugierig waren, wer in diesem Jahr das Rennen machen würde.
Dass ausgerechnet Lilit und Alexandra zusammen ein Gezeitenkonzert als Gipfelstürmerinnen in der wunderschönen Kirche zu Norden-Bargebur geben sollten, war für mich natürlich ein Highlight. Diese schöne, schlichte, aber gleichzeitig warme Kirche war wirklich der perfekte Ort für die beiden, was sich bereits nachmittags darin manifestierte, dass sie Fotos davon auf Facebook eingestellt hatten: „Our tonight’s venue to perform an incredibly rich programm including Debussy, Schubert Fantasy & co. Looking forward!“. & Co. war beispielsweise Vieuxtemps, auf den ich besonders gespannt war, spielt doch Alexandra die bisher noch nicht auf CD erschienenen „Six morceaux sur des thèmes russes ou divertissements d’amateurs für Violine und Klavier op. 24“ bei Naxos ein.
Die Auswahl der Stücke der beiden sympathischen Musiker führte zu einem absoluten Gleichgewicht und ließ sie mal wieder die ganze Bandbreite von Gefühlen ausdrücken. Das bemerkten auch die Gäste am Ausgang, von denen gleich mehrere zu Tränen gerührt waren. Nach dem begeisterten Applaus gab es jeweils eine Solo-Zugabe der beiden, wobei Lilits Arpeggione von Schubert am Schluss stand. Besonders schön fand ich, dass die sie dabei gemeinsam auf der Bühne blieben.
Es war wie bei den Gezeiten: mal laut, mal leise, mal stürmisch und mal fröhlich plätschernd. Und auch die beiden Künstlerinnen passten herrlich nach Ostfriesland: Unaufgeregte Gelassenheit trifft auf Begeisterung und Enthusiasmus. Sie überraschten mit ihrer Musik die Menschen nicht nur aus der Region.
Für den Vormittag hatte ich mit Karin Baumann von den Ostfriesischen Nachrichten zusammen mit Lilit Grigoryan und Alexandra Conunova-Dumortier einen Wattspaziergang mit Interview und schönen Fotos und eigentlich sogar Filmaufnahmen geplant. Leider wurde daraus nur ein Interview im Schutz der Strandkörbe, da es einfach zu kalt und zu windig war. Glücklicherweise hatten Uwe Pape und die Gastgeberin der beiden an Handtücher – eigentlich für die dreckigen Füße – gedacht, die die beiden aber als zusätzliche Wärmequelle nutzten. Witzigerweise kamen sie von unserem Förderer EDEKA, was ebenfalls bei Facebook vermerkt wurde: „During our interview, for the “Gezeitenkonzerte” Festival – freezing , wearing the latest towel model from EDEKA;-) with my Lilit“.
Musikalische Wanderungen beim Gezeitenkonzert in Holtgaste
„Was hat sich denn der Kirschnereit bei diesem Programm gedacht!?“ – Dieser Satz stammte gestern Abend in Holtgaste nicht von einem skeptischen Konzertbesucher, sondern vom Meister persönlich. Ungewöhnlich wirkte das Programm tatsächlich: nicht weniger als acht (!) Komponisten standen auf dem Programm, das von bekannten Stücken wie Mozarts A-Dur Sonate und Schumanns Kinderszenen bis zu Entdeckungen von Alberto Ginastera reichten. Ein tiefer Griff in die Repertoirekiste, wie er selber sagte. Und gleichzeitig ein Querschnitt durch das virtuose und breit gefächerte künstlerische Spektrum des künstlerischen Leiters der Gezeitenkonzerte.
Natürlich hatte er sich bei dem Programm etwas gedacht. Nach der perlenden Mozart-Sonate erklärte Kirschnereit den Abend. Das „Wandern“ sei das Leitmotiv des Programms. Bei Mozart wandert das Thema durch die verschiedenen Variationen und landet letztendlich im berühmten türkischen Marsch, also auch eine kulturelle Wanderung. Weiter ging es mit Schuberts Ungarischer Melodie und der Wanderung durch alle möglichen Tonarten im Marsch E-Dur hin zu Helmut Lachenmanns Variationen über ein Thema von Schubert. Die Anekdote dazu: Lachenmanns Lehrer bemängelte sein Legato-Spiel bei den Schubert Interpretationen. Was machte Lachenmann? Eine Woche später reichte er einfach seine eigenen Variationen ein.
Nach dem Schubert hatte sich der Pianist sichtlich warm gespielt, und auch die schöne Kirche in Holtgaste wärmte sich am Klang auf. Wettertechnisch war es gestern mal wieder bescheiden. Na, ja, im Prinzip war es einfach nur viel zu kalt für einen Julitag. Die Kirche – auch eine Entdeckung – liegt auf einer Warft am Rande des Dorfes. So weit man gucken kann, nur Wiesen und Horizont, also Ostfriesland pur. In der Kirche selber stand die Bühne zwischen Kirchenschiff und Chor. Dazwischen befindet sich eine Art Triumphbogen, sodass wir auch „hinter“ dem Flügel noch Stühle aufstellen konnten. 160 Besucher fanden damit Platz.
Nach der Pause, die dann die meisten doch draußen verbrachten, ging es mit Schumanns Kinderszenen weiter, die ja vermutlich jeder Klavierliebhaber kennt und vermutlich so einige zuhause üben. Zum Schluss hin wurde es dann abenteuerlich virtuos. Rachmaninoff (Preludes gis, h, und g-Moll) ist dafür immer noch der beste Garant. Richtig spannend wurde es dann am Ende mit Alberto Ginasteras Sonate para piano Nr. 1 op. 22 aus dem Jahr 1952. Scharfe argentinische Rhythmen und wilde Wechsel von Sechsachtel- und Dreiviertel-Takten rasten nur so dahin bis sie donnernd verhallten.
Mit Standing Ovations und zwei Zugaben endete der Abend um kurz vor 23:00 Uhr. Matthias Kirschnereit fuhr nach dem Mammutprogramm noch in der Nacht nach Hamburg zurück. So ein musikalischer Wanderer ist eben immer unterwegs.
Begeisternde Entdeckungen beim Gezeitenkonzert in Timmel
Entdeckungen – Das Schöne an dem Motto des Themenjahres der Ostfriesischen Landschaft ist ja, dass es unendlich weit gefasst werden kann. Das zeigte sich am Sonnabend beim zweiten Gipfelstürmerkonzert besonders deutlich.
Zunächst die Lokalität. Entdeckung Nr. 1: die Kirche. Zum ersten Mal durften die Gezeitenkonzerte in der Kirche Timmel zu Gast sein und diese wunderbare kleine neugotische Kirche entdecken. Die Kanzel wurde immerhin 1695 (!) geschaffen und die großzügige Holzverkleidung lassen den Raum bei Sonnenschein in warmen Farben erscheinen. Befürchtungen, dass die Akustik durch die Nähe zur Straße leiden könnte, wurden schnell ad acta gelegt. Der Klang war bis in die letzte Reihe klar und akzentuiert (was natürlich auch vor allem am exzellenten Klang der Marianis lag!).
Entdeckung Nr. 2: das Mariani Klavierquartett. Wibke hat hier ja schon geschrieben, dass man in diesem Fall ja eigentlich kaum noch von Gipfelstürmern sprechen kann, wenn Peter Philipp Staemmler (Violine) als festes Mitglied der Berliner Philharmoniker spielt und Barbara Buntrock (Viola) im Leipziger Gewandhausorchester die erste Solo-Bratsche gespielt hat.
Mozarts Klavierquartett Nr.1 g-moll bewies das eindrücklich. Hier wird als organische Einheit aus vier hochkarätigen Solisten musiziert, jeder Akzent macht Sinn, jede Note entsteht als Ensemble. Gerhard Vielhaber spielte seinen Flügel zurückhaltend und transparent-weich und es entwickelte sich in tolles Dialogspiel zwischen Flügel und Streichern.
Entdeckung Nr. 3: Frank Bridge. Natürlich haben etwas unbekannte, (oft) Werke aus dem 20. Jahrhundert einen Platz im Programm von Klassikkonzerten. Aber wenn der ausdrückliche Fokus auf diesen neuen Entdeckungen oder Wiederentdeckungen liegt, bekommen diese Kunstwerke eine völlig neue (Auf-)Wertung. Ebenso das Phantasy Piano Quartet fis-moll H. 94 (1910) des britischen Komponisten Frank Bridge (1879-1941). Einer dieser vielen Komponisten, die es noch nicht ins allgemeine Musikbewusstsein geschafft haben. Bridge wird leider tatsächlich darauf reduziert, einmal Benjamin Brittens Lehrer gewesen zu sein. Schade, das Stück war von einnehmender Qualität und vereinbarte spätromantische Bögen mit vorsichtig modern-avantgardistischen Prinzipien.
Nach der sommerlich entspannten Pause noch 40 Minuten Brahms – das erste Klavierquartett, ebenfalls g-moll. Musikgeschichtlich ließe sich dazu bestimmt viel sagen, wie Brahms diese Gattung weiterentwickelt hat. Aber ich schließe mal mit der schlichten Feststellung, dass das Ding spannend wie ein romantischer Actionfilm ist, mit seinem flirrenden Intermezzo und dem sinfonisch rauschenden Finalsatz.
Als Zugabe gab es einen Satz aus Schumanns Es-Dur Klavierquartett, bei dem die Marianis noch einmal mit allen lyrischen Qualitäten scheinen konnten. Bravo-Rufe, toller Applaus. Das Mariani Klavierquartett in Timmel – eine wahre Entdeckung.