Im Windschatten der Berechenbarkeit

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Offener Brief an unentschlossene Musikliebhaber

Liebe „Gezeitenkonzert“-Ostfriesen,

Julian Steckel, Foto: Marco Borggreve
Julian Steckel, Foto: Marco Borggreve

wenn man den geschätzten Festival-Veranstaltern glauben darf, soll es für die Gezeitenkonzerte in Bagband und Timmel noch Karten geben! Das kann ich eigentlich kaum glauben. Also rühre ich hier und jetzt die Werbetrommel, um zu überzeugen, dass das ja eigentlich nicht wahr sein darf.

In Bagband spielen am 21. Juni um 15:00 Uhr, also zu fußballfreundlicher Zeit (Ghana verliert erst ab 21:00 Uhr gegen unsere Portugal-Besieger), Julian Steckel (Violoncello) und Lauma Skride (Klavier) ein tolles Programm. Für 18 oder 25 Euro – nicht pro Musikstück, pro Karte! Und Schüler und Studierende zahlen gar nur 5 Euro!

Beide Interpreten gehören zu den anerkannt Besten ihrer Zunft, außerdem spielen sie auch noch Werke, die mich als Programmheftautor in dieser Zusammenstellung begeistern: Die späte Sonate von Debussy ist einzigartig, es folgt ein tiefsinniges Grave von Lutosławski, dann die pfiffige Sonate von Poulenc. Nach der Pause geht es mit den extrem kurzen Webern-Stücken op. 11 weiter, bevor dann mit Brahms‘ erster Sonate der ultimative romantische Schlusspunkt gesetzt wird. Wenn ich mir ein Programm für Violoncello und Klavier stricken dürfte, sähe es ungefähr genauso aus! Noch ein indiskreter Tipp: Wenn Sie als Publikum verstärktes Interesse an den Webern-Stücken zeigen, spielen die beiden Musiker das Opus 11 bestimmt gern nochmal – und dann werden Sie sehen, wie die Wirkung der sehr wenigen Noten um ein Vielfaches steigt. Ich habe mal in der Hamburger Musikhalle erlebt, welchen Zusatzeffekt die zweimalige Aufführung einer kleinen Sammlung von Webern-Orchesterstücken (op. 10) hatte – unbeschreiblich.

Dann Timmel: Dort spielen am 4. Juli um 15:00 Uhr, also wiederum zu fußballfreundlicher Zeit (die Schweizer verlieren auf dem Weg ins Finale erst ab 18:00 Uhr gegen unsere Achtelfinal-Helden), gleich vier PianistInnen ein Monsterprogramm, das kein professioneller Klavierspieler allein öffentlich aufführen würde. (Okay – vielleicht Lars Vogt, der ja auch so verrückte Dinge zusammenstellt wie Bachs „Goldberg-Variationen“ plus Beethovens letzte Klaviersonate, Backemoor, 3. Juli – ausverkauft, aber der Mann moderiert in Timmel ja nur.) Und zwar präsentiert Lars Vogt vier seiner gipfelstürmenden MeisterschülerInnen, die nacheinander mit Werken von Chopin (Klaviersonate Nr. 3, seine letzte), Strawinsky („Le sacre du printemps“ für Klavier zu vier Händen – irre!), Schubert (a-Moll-Sonate) und nochmal Chopin (Ballade Nr. 4, seine letzte) das Podium betreten. Wieso dieser Programmhöhepunkt der diesjährigen „Gezeitenkonzerte“ noch nicht ausverkauft ist, entzieht sich bei diesem Programm zum Preis von vergleichsweise läpppischen 15 oder 20 Euro meinem Verständnis: Gehen Sie mal in Hamburg in ein Konzert – da können Sie froh sein, für das Doppelte ein halb so gutes Programm zu erwischen… Und für Schüler und Studenten sind es auch hier nur 5 Euro.

Spielt als Gipfelstürmer beim Gezeitenkonzert in Timmel: Aaron Pilsan, Foto: Hans-Dieter Göhre
Spielt als Gipfelstürmer beim Gezeitenkonzert in Timmel: Aaron Pilsan, Foto: Hans-Dieter Göhre

Zwischen den offensichtlichen Höhepunkten von Auftaktkonzert in Emden (20. Juni) und „Schöpfung“ in Esens (22. Juni) und zwischen Lars Vogt in Backemoor (3. Juli) und den Vocalisti Rostochienses in Aurich (5.Juli) finden Sie im Windschatten der Berechenbarkeit musikalischer Höhepunkte diese eigentlichen Sensationskonzerte. Was soll ich dazu noch sagen? Nur soviel: Leute, macht die Kirchen voll!

Ihr begeisterter Abendprogrammheftautor
Ulf Brenken

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