Wovon es zu viel gibt: stinknormale Abende. Wovon es zu wenig gibt: Lange Nächte der Gipfelstürmer bei den Gezeitenkonzerten. Zwei Nächte im Jahr mit ausgedehnter Livemusik über sechs Stunden sind entschieden zu wenig! Das dachte ich, als die zweite Lange Nacht im Auricher Hotel am Schloss in den frühen Morgenstunden am Sonntag zu Ende ging. Auch wenn das Team bei diesem Format immer alle Hände voll zu tun hat, gibt es doch ausreichend Zeit für den Genuss. Und dieses Format ist ein Genuss.
Hotels und Kunst. Das ist eine merkwürdige Verbindung. Denkt man an Hotel-Filme, fallen einem abgesehen vom marzipansüßen „Grand Budapest Hotel“ schnell die Horrorstreifen wie „Shining“ oder „Psycho“ ein. Bitte oder besser nicht stören! Unvergessen auch „Lost in Translation“, wo ein derangierter Bill Murray, auf der Bettkante sitzend, einfach nur dem Leben abdankt. Gleichzeitig versprühen Hotels aber auch einen großen Charme, der uns sagt: Komm, trinken Sie ein Glas Wein an der Bar. Fühlen Sie sich wie zuhause – Nur besser. In Hotels trifft sich die Welt. Hier geht es international zu. Hotels sind ein öffentliches Wohnzimmer mit privatem Schlafbereich. Kurzum: ein absolut reizvoller Spielort für Kammermusik? In Aurich auf jeden Fall. Denn aus allen Ecken Deutschlands reisten am Wochenende 14 junge Musikerinnen und Musiker an, um ein Hotel zum Erklingen zu bringen.
Im Auricher Hotel am Schloss gibt es im ersten Stock einen beinahe schlossähnlichen Festsaal. Matthias Kirschnereit nutzte in der Vergangenheit öfters den Raum und den ansässigen Flügel für diverse Proben. Dabei entstand die Idee, dort eine zweite Lange Nacht zu veranstalten. Das Hotel sagte zu, öffnete seine Türen und übernahm das Catering, das von allen Seiten gelobt wurde. Was war anders als bei der ersten Langen Nacht? Es gab nur einen Saal. Damit fiel das Wandelkonzert aus. Das hatte Vor- und Nachteile. Einerseits war die Organisation leichter zu handhaben. Andererseits vermissten einige vielleicht den Austausch in der Pause. Für die Künstler war es am Sonntag aber durchaus entspannter. Sie konnten sich auf ihren jeweiligen Auftritt konzentrieren und mussten nicht von Saal zu Saal laufen. So spielten einige im offiziellen Teil zwar nur ein Stück, freuten sich aber vorher und nachher diebisch über die Atmosphäre und das Publikum.
Matthias Kirschnereit traf fünf Minuten vor dem Konzert in Aurich ein. Tiefenentspannt wie immer. Er moderierte die Künstler an. Den musikwissenschaftlichen Teil übernahm wieder Ulf Brenken. Launig, witzig, kenntnisreich und wie immer gut aufgelegt. Wenn Ulf Brenken in Ostfriesland ist, entwickeln die Gezeitenkonzerte eine ganz neue, intensive und herzliche Dynamik. Ein großer Spaß!
Was lässt sich zum musikalischen Programm und den 14 Künstlern sagen? Eindeutig zu viel für einen Blog Beitrag. Karin Baumann von den „Ostfriesischen Nachrichten“ ist mir außerdem zuvor gekommen. Auch sie hatte die Idee, das von Tino Kühn vorgetragenen Gedicht „Inventar“ von Jacques Prévert als Aufhänger für ihre Rezension der Langen Nacht zu benutzen. Der Text, im Zugabenteil vorgetragen, ist nämlich nichts anderes als eine ellenlange, höchst unterhaltsame Liste. Und weil Listen so viel aussagen, liste ich einfach mal auf, was musikalisch passiert ist.
Matthias Winckhler (Bariton) und Verena Metzger (Klavier) boten Vier Lieder von Strauß und zwei Arien. Später eine Stelle aus der „Lustigen Witwe“. Wir werden sie (die Künstler) wieder sehen. Unbedingt.
Das SIGNUM saxophone quartet spielte ein Streichquartett von Mozart. (Ja, ein Streichquartett von Mozart auf vier Saxophonen. Mein Gott, haben Sie was verpasst!). Das berühmte Barber-Adagio. Brutale Stille. Später Klezmer und Gershwin, bis die Bude rockt.
Tino Kühn sprach Texte von Falk Richter (Monolog aus „Electronic City“. Aktueller geht es nicht), Goethe und Dostojewski (Über das Rauchen. Ob er wohl aufhören wird? Hoffentlich nicht, sonst könnte er nicht solche Texte vortragen).
Jinho Moon spielte zwei Moments Musicaux von Schubert und kontrastierte sie mit Rachmaninow. Später Ungarische Tänze von Brahms mit Aya Matsushita, die Beethovens Sechs Bagatellen spielte. Gut, dass bei dieser Klasse extra der große Flügel in den Saal transportiert wurde.
Vasyl Kotys (Klavier) und das Elegio Quartett (Isabella Kubiak – Violine, Maria Potemkina – Violine, Aleksandar Jordanovski – Viola, Margreta Häfer – Violoncello) spielten 37 Minuten Dvoráks Klavierquintett op. 81. Geflüsterte Bravo-Rufe schon beim ersten Satz. Was für ein Abschluss! Und dann kamen ja noch die Zugaben….
Insgesamt waren 14 Musiker da, die alle wiederkommen wollen. Was für ein tolles Publikum, sagten sie später. Wir leiten das gerne weiter. „Bis zum nächsten Mal“ sagte dann Matthias Kirschnereit um Mitternacht und klappte den Flügel zu. Zugaben verlängern das Leben, hatte er vor dem berühmten „Midnight Jazz“, dem spontanen Zugabenteil gesagt. Ich würde sagen: Die Langen Nächte der Gipfelstürmer sind lebensverlängernd.