Wovon es zu viel gibt: stinknormale Abende. Wovon es zu wenig gibt: Lange Nächte der Gipfelstürmer bei den Gezeitenkonzerten. Zwei Nächte im Jahr mit ausgedehnter Livemusik über sechs Stunden sind entschieden zu wenig! Das dachte ich, als die zweite Lange Nacht im Auricher Hotel am Schloss in den frühen Morgenstunden am Sonntag zu Ende ging. Auch wenn das Team bei diesem Format immer alle Hände voll zu tun hat, gibt es doch ausreichend Zeit für den Genuss. Und dieses Format ist ein Genuss.
Tino Kühn
Eine Nacht für die Geschichtsbücher
14 Künstler, 2 Moderatoren, 6 Stunden Musik, 3 Bühnen, 220 Besucher, bestimmt tausende Takte Musik, Klassik, Jazz, Pop, Gesang, Schauspiel. Allein die Statistik enthält Superlative. Die Lange Nacht der Gipfelstürmer bot so ziemlich alles, was sich ein Mensch erträumen kann, wenn er sich für Musik und Kultur interessiert. In vielerlei Hinsicht war die Lange Nacht schon vorher als einer der Höhepunkte der Gezeitenkonzerte bezeichnet worden. Denn dass die Gipfelstürmer das Potenzial haben, die Besucher vom Hocker zu reißen, erleben wir seit anderthalb Jahren. All diese Gipfelstürmer zusammen an einem Abend? Ein Traum.
Wie lief dieses Wandelkonzert nun ab? In zwei Räumen, dem wunderschönen Ständesaal und dem Landschaftsforum, fanden zeitgleich Konzerte statt, in denen sich die Musiker abwechselten. Vorher wurden die Besucher in zwei Gruppen, die blaue und gelbe Gruppe eingeteilt. Nach der ersten Pause wechselten dann die Gruppen die Räume, man „wandelte“ also durch die Räumlichkeiten der Ostfriesischen Landschaft. Aber nicht nur die Besucher, sondern auch die Musiker flitzten noch während des Konzertes zwischen den Räumen hin und her, sodass jeder Besucher auch in den Genuss aller Stücke kam. Nach der zweiten Pause fanden sich dann alle – Musiker und Besucher – im Forum zusammen, wo alle Künstler noch einmal spielten und dann bei der Musik von JOCO den Abend im Innenhof der Landschaft ausklingen ließen.
So viel zur Struktur, die viel komplizierter klingt als es tatsächlich war und sich als riesiger Erfolg herausstellte. Pünktlich um 18:00 Uhr ging es bei besten sommerlichen Temperaturen entspannt im Innenhof los, wo Matthias Kirschnereit die Gäste begrüßte und mit der Struktur des Abends vertraut machte. Bereitwillig zogen alle in ihre jeweiligen Räume und ließen sich verzaubern von den jungen Künstlern, die euphorisiert und elektrisierend alle in ihren Bann zogen. Matthias Kirschnereit und Ulf Brenken moderierten jeweils die Konzerte, unterhielten das Publikum mit kurzweiligen Anekdoten und Informationen zu Komponisten, Werken und Musikern und führten so bereichernd durch die Lange Nacht.
Ein einzelner Blogeintrag reicht überhaupt nicht aus, um alle Künstler entsprechend zu würdigen. Für diejenigen, die diese Nacht leider verpasst haben, reicht vielleicht schon die Auflistung all derer aus, die mitgewirkt haben, um eine Vorstellung zu bekommen. Einige bekannte Namen kennt man noch aus dem letzten Jahr, einige sind dazu gekommen, wie der Tenor Karo Khachatryan, der mit seinen Arien die Landschaft zum Beben brachte, oder der Schauspieler Tino Kühn, der Texte vortrug und alle Register der schauspielerischen Darbietung zog. Vasyl Kotys (Klavier), Lilit Grigoryan (Klavier), Liya Petrova (Violine), Pau Codina Masferrer (Violoncello), Nicolai Gerassimez (Klavier), Wassily Gerassimez (Violoncello), Helge Aurich (Klavier) und David Kindt (Klarinette) standen am Ende gemeinsam auf der Bühne und verbeugten sich und erhielten donnernden Applaus, ein Bild für das Geschichtsbuch der Gezeitenkonzerte.
Matthias Kirschnereit bedankte sich für die gelungene Premiere. Dass dieses Wandelkonzert wiederholungswürdig ist, stand da schon fest. Vor allem der letzte gemeinsame Teil im Forum war für den künstlerischen Leiter eine Herzensangelegenheit. Denn es gab zwar ein offizielles Programm – das wurde aber am Ende über den Haufen geworfen und jeder spielte mehr oder weniger spontan. So wurde der Abschluss eine spannende Improvisation („Überraschungen“ stand im Programm), das Ganze funktionierte quasi auf Zuruf: „Wassily, willst du noch spielen?“. So wurde die oft übliche und strenge Liturgie des Klassikkonzertes abgelöst von einer entspannten, aber zugleich höchst konzentrierten und intensiven Atmosphäre mit dem Gefühl von „Hier und jetzt kann jetzt alles passieren“. Der Kreislauf des Kunstwerkes von Werk, Interpret und Publikum – selten wurde er so deutlich wie bei der Langen Nacht. Lang war der Sonnabend tatsächlich, der dritte Teil endete gegen 23:15 Uhr (man bedenke: es ging um 18:00 Uhr los!). Das störte niemanden, im Gegenteil: alle strömten zurück in den Innenhof, wo den ganzen Abend lang das Haase Catering und Thiele Tee für das Leib und Wohl sorgten und die ostfriesische Band JOCO den letzten musikalischen Höhepunkt bot. Zu deren wunderbaren Klängen und dem harmonischen Gesang der beiden Schwestern Cosima und Josepha ließ man die laue Sommernacht mit einer Gartenparty ausklingen. Die Lange Nacht der Gipfelstürmer – auch im nächsten Jahr!