Die Lange Nacht der Gipfelstürmer I
Zum Beispiel das Vision String Quartet. Wer heute gut sein will, spielt nicht nur die Klassiker einwandfrei und frisch, sondern wird selbst aktiv. Dann bedient man sich mal rotzfrech der deutschen Nationalhymne und lässt sie in nationale Disharmonie abkippen. Oder bearbeitet Schuberts „Erlkönig“ fürs Streichquartett und kann einfach alles von Jazz bis Klassik. Für Beethovens Streichquartett Nr. 7 F-Dur gibt es fünf Minuten Standing Ovation. Mancher sah da schon das Solokonzert 2015…
Zum Beispiel Schauspieler Emanuel Jessel. Geht gleich aufs Ganze und greift erstmal voll daneben. Sein Monolog aus dem Protokoll des Kindermörders Bartsch (bearbeitet von Oliver Reese) ist in seiner Scheußlichkeit nicht zu übertreffen. Ist das Kunst? Es ist zumindest ein Fehlgriff, der mit Altersbeschränkung ins Programm gemusst hätte. Immerhin gibt es Diskussionsstoff in der Pause. In einem anderen Kontext wäre der Text sicherlich angemessener gewesen. Die anschließende Arie von Donizetti sitzt dann allen wie ein Kloß im Gehörgang. Emanuel Jessel erobert sich das Publikum aber im Flug zurück, unter anderem mit Kreisler Nummern, und einer höchst musikalischen, schauspielerisch packenden Performance.
Zum Beispiel die Arien. Gibt es im Moment in Ostfriesland nur bei der Langen Nacht. Puccini, Donizetti, Verdi. Wer will da noch in irgendwelche Best-of-Musical-Shows gehen? Karo Khachatryan bringt den Ständesaal zum Beben, Marina Medvededa lässt die Gläser klirren. Zurückhaltend, aber bestechend begleitet von Jinho Moon am Flügel.
Zum Beispiel Janka Simowitsch, die nicht nur Jessel am Flügel spielerisch unterstützt, sondern wie bei ihrem letzten Gezeitenkonzert ihr Gespür für etwas abseitige, auf höchstem Niveau unterhaltende Werke unter Beweis stellt. Alfred Grünfelds Konzertparaphrase zu Walzermotiven von Strauß ist schnell, virtuos, verspielt. Nicht nur für dieses Stück ist der Applaus riesig.
Zum Beispiel die alten Bekannten. Lilit Grigoryan, Liya Petrova, Pau Codina Masferrer, gemeinsam mit Adrien La Marca an der Bratsche. Sie müssten eigentlich gar nicht mehr zur Nacht der Gipfelstürmer kommen, aber umso mehr ist es eine Freude, das Werther-Quartett von Brahms von ihnen zu hören; trotz aller musikalischer Dramatik am Abgrund. Es gab Besucher, die nur wegen Lilit gekommen waren. Mehr muss man nicht sagen. Und mein Wunsch fürs nächste Jahr: Zum dritten Mal bitte Halvorsens Passacaglia g-Moll für Violine und Viola.
Soviel zum „normalen“ Programm der Langen Nacht. Da war es dann auch schon 23:00 Uhr. Jetzt geht man nach Hause, den Kopf voller Melodien, regt sich ein wenig über die gehobene Mittelschicht auf, denkt dann wieder an die tollen ersten Takte aus Rebecca Clarkes Sonate a-Moll, die es innerhalb von einer Woche zweimal zu hören gab, und erfreut sich dann am Leben, der Musik, der Liebe. Ein ganz normaler Abend nach einem Klassik-Konzert.
Aber nein, das Wunderbare an diesem Format ist, dass es nicht normal bleibt. Zum Abschluss gibt es eine Künstler-Serenade, wie man sie sich nicht schöner wünschen kann. Jeder kann, jeder darf auf die Bühne und moderiert seine Stücke an. Weil hier nicht mehr die 30 Minuten Brocken ausgepackt werden, geht es rasant zu. Arie, Klavier solo, Streichquartett, Sopran, Rezitation – sie wechseln sich im Fünf-Minuten Takt ab. Und auf einmal ist es ein Uhr morgens. Wo ist die Zeit geblieben? Einige sind gegangen, aber die meisten halten durch, von 18:00 bis 01:00 Uhr. Es war nicht die Länge, sondern die Intensität, die den Abend so besonders machte. Oder um Bruce Springsteen zu zitieren: „There is no reward for doration. It’s not the time in your life, it’s the life in your time.“