Was für ein Konzert

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Dramatische Vorgeschichte

Endlich angekommen: Anna Vinnitskaya beim Einspielen, Foto: Karlheinz Krämer
Endlich angekommen: Anna Vinnitskaya beim Einspielen, Foto: Karlheinz Krämer

Am Samstag sollte ja nun kurzfristig die 32-jährige Pianistin Anna Vinnitskaya für die erkrankte Maria João Pires einspringen. Alles war vorbereitet, der NDR baute ab mittags in der Neuen Kirche auf. Morgens war klar, Anna kommt mit ihrem Mann mit dem Auto aus Hamburg. Nachmittags erreichte uns ein Anruf: Das Auto hatte eine Panne und konnte mit der defekten Lichtmaschine nicht weiterfahren. Wie gut, dass wir zumindest die wichtigsten Handynummern schon austauschen konnten, wussten wir doch erst seit Freitagmittag, wer gemeinsam mit Lilit Grigroyan dieses Gezeitenkonzert bestreiten würde. Unser erster Fahrdienstleiter (und auch der einzige) Uwe Pape schwang sich sofort hinter das Steuer seines VW Passats, um Anna entgegen zu eilen. Wie der Zufall es so wollte, kam er jedoch gleich vor Oldenburg in einen langen Stau. Anna und ihr Mann standen derweil irgendwo bei Bockel. Nun wurde es so langsam knapp von der Zeit her. Glücklicherweise kam schließlich der ADAC und konnte den Wagen soweit flott machen, dass er zumindest noch bis nach Hamburg zurückfahren konnte. Das half Anna und Uwe jedoch immer noch nicht zueinander. Dann aber hatte Uwe einen seiner Geistesblitze und ließ den freundlichen Helfer vom ADAC fragen, wo er denn im Anschluss an seinen Einsatz hinführe – nach Groß-Mackenstedt. Das wiederum war für Uwe erreichbar, sodass er ihn bat, Anna bis dorthin mitzunehmen. Als sie nun endlich in seinem Auto saß, rief er mich an, um mir zu sagen, dass sie gegen 19:00 Uhr – also eine Stunde vor Konzertbeginn – in Emden sein würden. Wohl wissend, dass Anna sich bestimmt gerne länger eingespielt hätte und auch vielleicht ein paar Passagen mit dem aufnehmenden NDR Kultur durchgegangen wäre, konnten wir jetzt nur noch das Beste aus der Situation machen. Also versprach ich Anna, dass sie eine halbe Stunde absolute Ruhe in der Kirche zum Einspielen bekäme. Um halb acht sei Einlass. Dann rief ich unseren Klavierstimmer Tamme Bockelmann an, um ihn zu bitten, schon früher nachzustimmen. Da auch Berit Sohn, unsere Künstlerbetreuerin, schon mitgedacht hatte, war er bereits dabei.
Anna kam, ging mit Tunnelblick zum Flügel und nahm sich exakt ihre dreißig Minuten Einspielzeit und beschränkte sich dabei schon auf wenige Passagen, die sie zuvor bestimmt bereits im Geiste durchgegangen war. Das waren eigentlich denkbar ungünstige Voraussetzungen für ein Konzert, gerade wenn einem die Mikrofone für die Aufnahme direkt vor der Nase stehen und einen daran erinnern, dass das ein bleibendes Erlebnis wird. Lilit hingegen hatte den kompletten Nachmittag ganz entspannt und ausgiebig alleine am Instrument proben können. Glücklicherweise machte sie den Anfang. So konnte Anna sich noch ein wenig akklimatisieren.

Lilit Grigoryan macht den Anfang, Foto: Karlheinz Krämer
Lilit Grigoryan macht den Anfang, Foto: Karlheinz Krämer

Ich muss zugeben, Lilit Grigoryan ist mir in den vergangenen vier Jahren unseres Festivals besonders ans Herz gewachsen, und auch sie bezeichnet die Gezeitenkonzerte als ihr Lieblingsfestival. So war ich sehr froh, dass zumindest sie uns für dieses Konzert erhalten geblieben war. Die beiden fast gleichaltrigen Musikerinnen passten nicht nur optisch auch wunderbar zusammen. In der Neuen Kirche stand als erstes Beethovens Klaviersonate Nr. 27 e-Moll op. 90 auf dem Programm. Da das Kirchenschiff mit den 430 Gästen so gut wie vollbesetzt war, saß ich zusammen mit Gert Ufkes auf der Treppe, also ganz hinten unter der Empore und versuchte, die tolle Musik, voller Leidenschaft und Energie zu genießen. Leider trübte hier, genauso wie im vergangenen Jahr an genau diesem Ort, ständiges Gehuste den Hörgenuss. „Ricola, hilf!“ dachte ich, hatte doch Wiebke Schoon nach dem Erlebnis im vergangenen Jahr sich um leise auswickelbare Hustenstiller gekümmert. Ich hoffe, die Aufnahme hat nicht darunter gelitten und mittlerweile geht es den Hustenden wieder besser!

Anna Vinnitskaya, Foto: Karlheinz Krämer
Anna Vinnitskaya, Foto: Karlheinz Krämer

Nach Lilit, die mit großem Applaus bedacht wird, kam Anna Vinnitskaya auf die Bühne. Äußerlich war ihr kaum noch Aufregung anzumerken. 13 Kinderszenen hatte sie sich als Auftakt ausgesucht und spielte sie sehr intensiv. Die Träumerei stach natürlich ein wenig hervor, kennt man sie doch am besten. Beim „Ritter vom Steckenpferd“ musste ich aufpassen, nicht laut aufzulachen, war der doch so gut erkennbar und fühlte ich mich an Simons Überschrift eines Blogposts zum Konzert von Julian Steckel „Ein wildes Steckelpferd fliegt über die Saiten“ erinnert. Es war kurzum ein Genuss, ihr zuzuhören. Diese Auffassung teilte auch das Publikum. Barbara Fischer, die für die Ostfriesen-Zeitung vor Ort war, fragte mich später, ob Anna Kinder habe. Sie habe die Kinderszenen so gespielt, als habe sie lange welchen beim Spielen zugeschaut. [Ja, sie hat zwei kleine Kinder, einen Mann, lebt in Hamburg, wo sie an der dortigen HfMT eine Professur inne hat, und spielt dennoch viele, erfolgreiche Konzerte. Für ihre Einspielungen erhielt sie u. a. den ECHO Klassik und zweimal den Diapason d’Or.]

Es folgten Acht Klavierstücke op. 76 von Brahms, die mit einer interessanten Kombination der Tonarten daher kommt und daher sehr abwechslungsreich erschien. Zwar macht man es jemandem, wenn er oder sie so kurzfristig einspringt, leicht, was die Programmgestaltung angeht, aber bei Anna Vinnitskaya passte die Auswahl perfekt zum Motto der Gezeitenkonzerte 2015 – Neue Bahnen. So hatte sie sich neben den Kinderszenen von Robert Schumann zwei sehr unterschiedliche Brahms-Werke ausgesucht, neben dem gerade genannten nach der Pause noch die selten gespielte Bearbeitung für Klavier der Bach-Chaconne, die nur mit der linken Hand gespielt wird.

Der Flügel und auch die beiden Pianistinnen sowie einige Gäste im Publikum litten ein wenig unter der Sonne. Beim Flügel hatte das sogleich konkrete Auswirkungen, sodass Tamme Bockelmann in der Pause doch ein wenig länger als gewöhnlich nachstimmen musste.

Was jetzt kam, war für viele im Publikum ein Erlebnis. Für mich war es nicht ganz so spektakulär, da ich Anna Vinnitskaya nicht sehen, sondern nur hören konnte. Aber beim Anspielen hatte ich ihr auf die Finger gucken können, sodass ich wusste: Die rechte Hand liegt bewegungslos in ihrem Schoß, und alles, was sich auf den Tasten abspielt, kommt ausschließlich von der linken Hand. Hätte ich das nicht gewusst, weiß ich nicht, ob ich es gehört hätte. Witzigerweise kam gerade bei diesem Stück über die Empore noch ein Teil der Klänge von dort nach unten zu meinem Beobachtungsposten auf der Treppe zurück – ein sehr interessanter Nebeneffekt. Es folgte ein tosender Applaus mit Bravo-Rufen, die zu einer beschwingten Zugabe mit vermeintlichen Vogelklängen führte. Das war das Walzerscherzo aus dem Zyklus „Puppentänze“ von Dmitri Schostakowitsch
Als letztes Stück stand erneut Beethoven auf dem Programm, die „Appassionata“, sehr schön und eben leidenschaftlich gespielt von Lilit Grigoryan, mit langen Pausen zwischen den Sätzen, um dann behutsam, schön fließend und zwischendurch energisch daher zu kommen. Auch hier folgte auf Wunsch des Publikums eine Zugabe, die, wie Lilit anmoderierte, einigen vielleicht von den Langen Nächten der Gipfelstürmer bekannt sei, wo sie zwingend dazu gehöre: von Aram Khachaturian aus dem Ballett „Gajaneh“ zuerst „Usundura“, übergehend in den fantastischen, schnellen „Säbeltanz“.

Unser Fazit: Trotz aller widrigen Umstände, die nun wirklich dieses Gezeitenkonzert nicht unter einen guten Stern stellen wollten, war es ein wundervoller Abend mit zwei ganz großen Pianistinnen, die öfter zusammen auftreten sollten. Ich jedenfalls freue mich auf den erneuten Hörgenuss dieses Konzertes bei unserem Kulturpartner NDR Kultur, voraussichtlich am 3. Oktober, so zumindest die sehr sympathische Tonmeisterin, die hoffentlich auch bei unserem Nachhol-Gezeitenkonzert mit Maria João Pires und erneut Lilit Grigoryan am Start sein wird.

Nette Geste: Beim Auftritt der jeweils anderen saßen die Künstlerinnen im Publikum, Foto: Karlheinz Krämer
Nette Geste: Beim Auftritt der jeweils anderen saßen die Künstlerinnen im Publikum, Foto: Karlheinz Krämer

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