Wenn sich der Fußball schon bei allen Adjektiven der Kunst bedient („virtuoser Ballkünstler“, „filigraner Techniker“), holen wir doch mal einen der strapaziertesten Begriffe der letzten Woche zurück in die Kunstrezension: das „Team“. Und alles was dazu gehört: „Team-Arbeit, Team-Zusammenhalt, Team-Geist, Team-Denken usw. usf..
Kammermusik ist Team-Arbeit, wer weiß das nicht? Aber in Zeiten des besonderen Team-Denkens kann man das gerne mal betonen. Kratzt das Violoncello blöd rum, kann die Violine nichts Schönes leisten. Sind die Einsätze, Pausen, Dynamik, Melodienführungen nicht gemeinsam abgestimmt, wird’s nichts beim Wettbewerb. Und leider hat auch die Kunst ihre Turniere und Wettkämpfe.
Haydn
Grenzen überschreitende Musik in Ditzum
Die beiden grandiosen Tage mit dem Ensemble Allegria wurden eingerahmt von zwei Solokonzerten, die es auf ihre eigene Art und Weise in sich hatten. Nach Julian Steckel spielte am Sonntagnachmittag der Pianist Paul Komen in Ditzum. Komen ist zugleich der künstlerische Leiter des niederländischen Peter de Grote Festival und ein musikalisch umtriebiger Mensch auf beiden Seiten der deutsch-niederländischen Grenze, die den Grenzkonzerten ihren Namen gibt. Er war also für viele aus dem Gezeitenteam quasi ein alter Bekannter. Genauso angenehm und entspannt lief der Tag in Ditzum ab, einer der bislang heißesten Sommertage des Jahres. Ditzum bietet (ähnlich wie Dangast) eine einzigartige Kulisse. Schon die Anreise mit der Fähre verspricht jedes Jahr nicht nur den Touristen bleibende Eindrücke. Im Volksmund wird Ditzum das „Endje van de Welt“ genannt. Bei so gutem Wetter zeigten sich das Dorf und die Ems-Dollart Region „von seiner schönsten Seite“, wie es in allen Touristenführern immer heißt.
Dementsprechend herrschte vor Ort eine urlaubsähnliche Atmosphäre, die auch die arbeitenden Personen, sprich Pianist und Team, ansteckte.
Musikalisch herrschte dagegen ausschließlich Moll-Stimmung, denn alle Stücke vor der Pause standen in Molltonarten. Das Besondere war, dass Komen gleich auf zwei Klavieren spielte, einem Steinway Flügel aus dem Hause Bockelmann und einem Hammerklavier nach Anton Walter von 1800.
Auf dem Hammerklavier spielte er die erste Hälfte Stücke, die an der Grenze der Ausdrucksmöglichkeiten des Instrumentes komponiert sind. Wie Komen in seinen Einführungsworten erklärte, würden Werke erklingen, die auf unterschiedliche Art und Weise in ihrer Zeit Formen sprengten.
Den Anfang machte Haydns Variationen f-Moll, bei denen schnell klar wurde, dass Paul Komen mit historischen Instrumenten seit Jahren vertraut ist und die kleine Klaviatur und die verkürzte Tondauer des Hammerklaviers nie als Einschränkung begreift.
Als letztes Stück vor der Pause stand nach Mozarts Sonate KV 310 a-Moll Beethovens Mondscheinsonate auf dem Programm, diese schwer romantische Fantasiesonate (Sonata quasi una Fantasia). Was fasziniert die Hörer immer noch an dieser Berühmtheit? Für mich ist es der dritte Satz, der nach dem tänzerisch-lieblichen Allegretto (das mir, ehrlich gesagt, noch nie so nahe gegangen ist), unwetterartig über die schwarz-weißen Tasten fegt. Sechzehntel-Noten donnern leise grollend von unten kommend und entladen sich in zwei blitzartige Achtel in sforzando. Ein rauschhaftes Presto agitato folgt.
Diese Sonate zum ersten Mal auf dem Hammerklavier zu hören, war eine besondere Erfahrung. Vor dem Konzert noch ein kurzer Blick in Joachim Kaisers dickes Übersichtswerk zu Beethovens Klaviersonaten geworfen, und diese Sätze gelesen: „Wir haben uns mittlerweile gewöhnt an die Ungewöhnlichkeit der Sonate, als wäre es nicht doch ein Wunder, dass die starren und explodierenden Inständigkeiten dieses cis-Moll-Alptraums eine so klare, sinngefällige Form fanden, ohne irgend etwas von ihrer rhapsodischen Direktheit einzubüßen. Dergleichen komponiert selbst ein Beethoven kein zweites Mal.“ Beim dritten Satz sei das Instrument kurz vorm Zusammenbrechen, scherzte Komen vorher. Grenzen überschreitende Musik eben.
Zur Pause wehte ein kleines Lüftchen über die Kirche, die ein wenig höher liegt. Danach gab es 30 Minuten lang Ausschnitte aus Federico Mompous „Musica Callada“. „Keine Note zu viel und keine Note zu wenig zu schreiben“, war das Anliegen des Katalanen. Im zweiten Teil war ich leider selber nicht in der Kirche, aber zwei Besucher berichteten auf dem Weg zur Fähre, dass ihnen dieser Teil ganz besonders gut gefallen habe und überhaupt die Mischung als Hammerklavier und Steinway einen spannenden Reiz geboten habe.
Um halb acht fuhren die meisten Besucher dann mit der Fähre wieder zurück nach Petkum. Die Sonne brannte da noch. Ein schöner Ausklang eines wiederum höchst musikalischen Wochenendes.
Gezeitenkonzert Stapelmoor: „War gut!“
Wo liegt Stapelmoor? Von Hamburg aus irgendwo weit links. Praktischerweise hat Michis Auto ein Navigationssystem, und die Adresse steht im „Programm 2013“ auf Seite 24. Er fährt, ich lasse mich fahren – alles wie immer, sehr schön! Keine Sorge, es folgt jetzt kein Bericht unserer Fußballtour vom Oktober 2012 (Brügge, London, Lille, Mönchengladbach), nein, es geht schon um Mendelssohn, Brahms, Haydn, Piazzola und Bragato. Meine absurd erscheinende Anfrage, ob er sich vorstellen könne, mit mir das Konzert des Mendelssohn Trio Berlin zu besuchen, fand schnell seine Zustimmung. Auf geht’s!
Nach lockerer Fahrt mit ausgedehnter Nachmittagspause (ein Lob auf die Küche des Restaurants „Seeblick“ in Bad Zwischenahn!) erreichten wir sehr rechtzeitig die Kirche in Stapelmoor, wo mir gleich einige aus 2012 vertraute Gesichter entgegen lächelten. Die Konzertvorbereitungen waren in vollem Gange, und auch dank eines Schweizer Taschenmessers aus Hamburger Beständen war der NDR-Aufsteller nicht lange ein wirkliches Problem.
Das Innere der ev.-ref.-Kirche mit seinem kreuzförmigen Grundriss, den kleinen Emporen, der beeindruckenden Orgel und den bemalten Gewölben machte Eindruck. Hier sollten heute abend also etwa zweihundert Besucher Platz finden… Der Flügel stand auf einem Podest in der Mitte der Kirche, quasi unter der zentral postierten Kanzel, entsprechend versetzt waren die Plätze für Geige und Cello zu erahnen. Alles schien ziemlich eng bemessen. Das Notenpult des Cellisten stand im Gang.
Noch war Zeit, es gab Cola und Kaffee, in den Räumen der „Alten Schule“ um die Ecke waren auch Rückzugsräume für die Künstler. Auf dem Parkplatz stand sogar ein Auto mit schwedischem Kennzeichen und nicht weit entfernt ein Wagen aus dem aktuellen VW-Gezeiten-Fuhrpark vom Volkswagenwerk Emden. Alles lief sowohl wie am Schnürchen als auch routiniert, dabei ebenso unaufgeregt wie freundlich. Behindertenparkplatz gesucht? Kein Problem – da drüben ist Platz, stellen Sie sich einfach so hin, dass links und rechts kein anderes Auto dazwischen paßt!
Kurz nach acht saßen alle Besucher auf ihren (wie immer personalisiert vorbereiteten) Plätzen. Mit einer kurzen Ansprache begrüßte Landschaftspräsident Helmut Collmann die Anwesenden, dankte der Kirchengemeinde (für die Räumlichkeiten), den Sponsoren (für die Zuschüsse) und uns Besuchern (für den Besuch). Dann bahnte sich das Mendelssohn Trio Berlin seinen Weg auf das Podium und begann das Konzert mit dem Trio c-Moll seines Namensgebers Felix Mendelssohn Bartholdy, das er 1820 mit elf Jahren komponiert hatte. Die Vorbilder Mozart und Beethoven blieben nicht verborgen. Das Geheimnis, weshalb die Interpreten die Mittelsätze (Scherzo und Adagio) umstellten, konnte ich aber erst in der Konzertpause lüften…
Es folgten sieben Lieder von Johannes Brahms, die für Violoncello (Ramón Jaffé) und Klavier (Andreas Frölich) eingerichtet waren. Nach dem vierten Lied spielte der Pianist mit Uta Klöber (Violine) Brahms’ Scherzo c-Moll zur F.A.E.-Sonate aus dem Jahr 1853. Eine insgesamt abwechslungsreiche Darbietung! Noch vor der Pause ging es hochkarätig weiter: Joseph Haydn kam an die Reihe, von ihm erklang das Klaviertrio Nr. 45 Es-Dur von 1797. Mit Charme und Witz stürmte das Ensemble durch die drei Sätze, am Ende prasselte der Beifall. Es war bereits viertel nach neun.
In der angenehm temperierten Pause (wir hatten aus Hamburg sonniges Wetter mitgebracht) konnte ein imaginärer Flüssigkeitsverlust am „Haase“-Stand ausgeglichen werden. Andererseits trifft man nicht jeden Abend aktive Konzertpianisten beim Händewaschen in der Herrentoilette – also nutzte ich die Gelegenheit, Andreas Frölich zu fragen, weshalb die Mendelssohn-Mittelsätze umgestellt wurden. Er erklärte mir engagiert und bereitwillig, dass das Trio beim Üben den Eindruck gewonnen hatte, die Reihenfolge sei so musikalisch plausibler (Tonartenbezug der Sätze untereinander, Vergleich zu seinen späteren Klaviertrios mit Scherzo immer an dritter Stelle). Sehr sympathisch!
Das Konzert ging nun weiter mit dem „Tango-Teil“, wie ihn Ramón Jaffé ankündigte. Es erklangen einige Werke von Astor Piazzolla und „Graciela y Buenos Aires“ (für Violoncello und Klavier) seines langjährigen Weggefährten José Bragato. Piazzollas Kunst, den „Tango Nuevo“ aus der folkloristischen Ecke aufs Konzertpodium zu holen, halte ich für eine große künstlerische Leistung, zumal die Werke immer spannend klingen (wenn sie so gut gespielt werden wie in Stapelmoor) und von berückender, traurig anmutender Schönheit sind. „Meditango“ für Klaviertrio, „Tanti Anni Prima“ (für Violine und Klavier), dazu die aufgeteilten vier Sätze „Las Cuatro Estaciones Porteñas“ (Die vier Jahreszeiten, für Klaviertrio arrangiert von José Bragato), bezauberten die Zuhörer.
Der donnernde Schlussbeifall (Holzfußboden!) animierte die Künstler zu zwei Zugaben: zunächst den 1945 komponierten „Tango pathétique“ von Peter Kiesewetter [den man im Internet auch von sehr prominenten Musikern dargeboten bekommen kann, sollte man das Stapelmoor-Konzert zufällig verpasst haben, empfehle ich das YouTube-Video und abschließend Astor Piazzollas Meisterwerk „Oblivion“. Jetzt war es bald elf Uhr.
Wie eigentlich immer, wenn man aus Hamburg aufs Land fährt, will man nachts trotzdem zurück, so auch diesmal. Wäre nicht auch noch ein mehrteiliger, nicht überholbarer Schwertransport zwischen Oldenburg und Bremen unterwegs gewesen, hätten wir es sogar in zwei Stunden geschafft. Aber auch so gilt Michis kompetentes Fazit zu diesem Konzertausflug nach Stapelmoor: „War gut!“
Ulf Brenken