Was haben fünfzehn taiwanesische Streicher, ein süddeutscher Geiger, drei italienische Komponisten, vier Zugaben und dreihundert überwiegend ostfriesische Zuhörer gemeinsam? Alles traf sich beim Gezeitenkonzert in der Großen Kirche in Leer, das am vergangenen Sonntag über die Bühne ging. Übrigens mit neuem Abendkassenrekord – auch das sollte hier mal geschrieben werden.
Die fünfzehnköpfige Academy of Taiwan Strings (plus Management) hatten zusammen etwa die zehnfachen Anreisekilometer wie die komplette Zuhörerschaft auf dem Tacho – das musikalische Engagement des jungen Ensembles aber war trotz Nachwirkung der transkontinentalen Anreise ungebrochen. Zunächst stellte es uns ein Werk des 1970 geborenen taiwanesischen Komponisten Zhe-Yi Li vor: „String dance“ – das klang nach schmissiger Filmmusik, wie sie ein entspannter Bernard Hermann hätte schreiben mögen, wenn „Psycho“ eine Balletteinlage gehabt hätte. Stomp!
Dann trat er aufs Podium: Ingolf Turban. Der Münchner mit badensischen Wurzeln hatte bereits am Nachmittag im Martin-Luther-Haus der Berufsakademie Ostfriesland den 2006 gedrehten Film „Paganinis Geheimnis“ vorgestellt, in dem er auch in die Rolle des italienischen Geiger schlüpfte. Nach der Vorführung nahm er sich noch über eine halbe Stunde Zeit, manche Fragen zum ambivalenten Thema „Teufelsgeiger“ zu beantworten und Missverständnisse aufzuklären – sehr informativ!
Mit der Academy of Taiwan Strings spielte er nun gemeinsam drei Stücke von Tartini, Paganini und Sivori – also Werke von einem verehrten Vorläufer Paganinis, dem Meistergeiger selbst und von seinem einzigen Schüler. Giuseppe Tartinis berühmte „Sonate mit dem Teufelstriller“ hat mehr als nur den letzten Satz, und tatsächlich kommt dann ein hörenswertes Barockkonzert zum Vorschein. Natürlich wurde diese Darbietung von Niccolò Paganinis „Le streghe“ (Hexentanz) getoppt, denn nun zupfte, klimperte, spritzte und sprang es von der Geige in den Saal, dass man sich fragte, ob die Ohren mehr sehen als die Augen hören: Faszinierendes Virtuosentum, und das über ein eigentlich melodiöses Thema aus einem Ballett von Franz Xaver Süßmayr, das 1813 halb Mailand vor sich hinsummte! Paganini, der Marketing-Fuchs, nutze das brillant aus und schrieb ein Stück, das auch heute noch großen Spaß verbreiten kann. Dann noch eine wunderschöne Romanze von Camillo Sivori – und ich hätte die Quizfrage auch nicht zu beantworten gewusst, was es mit diesem Namen auf sich hat. Wie heißt noch gleich das Motto der diesjährigen Gezeitenkonzerte? Entdeckungen! Da war wieder eine!
Noch vor der Pause gab es schon mal zwei Zugaben. Ingolf Turban spielte zunächst Paganinis Introduktion und Variationen über die Arie „Nel cor piu non mi sento“ aus der Oper „La bella molinara“ von Giovanni Paisiello. Und als der tosende Applaus partout nicht enden wollte, hatte er noch einen Joker im Ärmel beziehungsweise in den Fingern: Angesichts der strahlenden Spätnachmittagssonne, die den Kirchenraum freundlich beleuchtete, gab es noch den ersten Satz aus der Sonate für Violine allein op. 31/2 von Paul Hindemith. Die hat nämlich einen sensationellen Untertitel: „Es ist so schönes Wetter draußen”.
Das Wetter konnten die Besucher dann in der Pause genießen. Mancher sah sich jetzt erst die imposante Große Kirche bewusst von außen an und beschloss, das frisch renovierte Gebäude bei Gelegenheit noch einmal zu besichtigen.
Ingolf Turban kam rechtzeitig zum zweiten Teil des Konzertes aus seinem Künstlerzimmer zurück, um sich anzuhören, wie die Academy of Taiwan Strings das Werk eines national-romantischen Europäers wiedergeben würden. Sie spielte Antonín Dvořáks Serenade für Streichorchester, die mit ihren fünf in der Tat nachtmusikalischen Sätzen sehr bezaubernd ist. Auch das asiatische Ensemble kam nicht unter zwei Zugaben aus der Kirche und spielte daher zunächst das Larghetto, den langsamen Mittelsatz, aus Edward Elgars Serenade for Strings. (Sie wird übrigens in voller Länge beim Abschlusskonzert in Emden zu hören sein.) Und zum guten Schluss rundete wiederum ein Werk aus der Heimat des Gastensembles das Konzert ab: Es gab den „Handpuppentanz“ von Pong Jing (wenn ich die Managerin des Orchesters richtig verstanden habe), ein witziges, kurzes Stück, mit dem alle nach fast zweieinhalb Stunden unbeschwert die Kirche verließen.
Das Orga-Team, dessen freundliche Bekanntschaft ich nun schon ein halbes Dutzend Mal persönlich machen durfte, war übrigens noch gezeichnet von der Langen Nacht vom Vortag. Manchmal bin ich ganz froh, im Anschluss an ein Konzert nur noch im Auto von Matthias Kirschnereit gemütlich zurück nach Hamburg gefahren zu werden. Aber ich komme gern wieder!