Es gibt in Ostfriesland ein kleines Dorf, das nennt sich Ochtersum. Wer zum ersten Mal durch Ochtersum fährt, erlebt ein beschauliches, unspektakuläres Dörfchen, wo direkt hinter der Kirche die ostfriesische Endlosigkeit beginnt. Hier ist nicht viel los. Seit gestern Abend dürfte (zumindest theoretisch) die halbe Welt Ochtersum kennen. Das Gezeitenkonzert mit Ramón Ortega Quero (Oboe) und Annika Treutler (Klavier) wurde von Deutschlandradio Kultur live übertragen. Eine Premiere bei unserem Festival. Viele Konzerte wurden in den letzten drei Jahren mitgeschnitten und zum Teil in diesem Jahr ausgestrahlt, doch eine Live-Schalte war noch nicht dabei. Wibke hat hier schon erzählt, wie diese besondere Übertragung zustande kam.
So eine Live-Schalte ist spannend und macht auch ein wenig nervös. Stimmt die Technik, laufen alle Mikros? Ist die Ansprache kurz genug? Immerhin musste um Punkt 20:05 die Musik erklingen. Kommen die Musiker in der Pause zum Moderator? Bekommen wir alle Besucher nach der Pause wieder pünktlich in die Kirche? Ist das Programm so geplant, dass das Konzert bis 22:00 Uhr dauert? Jede Menge Fragen, die vielleicht harmlos wirken, aber vor Ort dann doch ein wenig nervös machten. Immerhin geht man live in ganz Deutschland und im Internet sowieso weltweit auf Sendung.
Die Künstler waren maximal entspannt. Nachmittags hatten sie mit den Technikern alles abgestimmt. Ihr Programm hatten sie sowieso sicher drauf. Die beiden hatten eine kleine Japan-Tournee zusammen bestritten, bei der sie einen Großteil des Programms gespielt haben.
Mit Camille Saint-Saëns Sonate für Oboe und Klavier ging der Abend los. Wie schon an mehreren Stellen angesprochen, verfolgt uns der Komponist im letzten Festival-Drittel. Nach Völlen und Remels war es erfrischend, den Franzosen wieder im Programm zu haben. Nachdem klar war, dass die Technik und Übertragung einwandfrei funktionierte, konnte auch beim Team der Genuss-Modus eingeschaltet werden. Zu genießen gab es Annika Treutlers Klavierspiel, dem man den zweijährigen Fortschritt durchaus anhörte. Nicht nur im blinden Zusammenspiel mit Ramón Ortega Quero, sondern auch bei ihren Solo Auftritten entwickelte sie einen wohlüberlegten und mitreißenden Klang. Sei es in Haydns Variationen f-Moll oder in der komplexen Klaviersonate Nr. 10 op. 70 von Skrjabin, sie spielte so mühelos und inspirierend, dass es in Ochtersum eine Freude war, dieser hinreißenden Künstlerin zu lauschen. Natürlich wollten wir vom Team auch in die Radio-Schaltung reinhören und versammelten uns auf dem Parkplatz im Phaeton von unserem Sponsor VW, dessen großzügige Musikanlange Wohnzimmeratmosphäre verbreitet. Hier hörten wir unter anderem Schumanns Romanzen für Oboe und Klavier op. 94. Ein Standard-Repertoire für jeden Oboisten. Unter Ramón Ortega Quero blühten diese wunderbaren Stücke auf und die ganze Klasse dieses Ausnahme-Oboisten wurde deutlich. Nächste Woche spielt er beim Rheingau Musikfestival. Aber vielleicht sagen sie beim Rheingau Musikfestival ja auch: Letzte Woche hat er in Ochtersum gespielt!
In der Pause stellten sich die Musiker den Fragen von Moderator Volker Michael zur Verfügung und zeigten sich (zu unserer Freude) sehr angetan von der Atmosphäre, dem Publikum („mucksmäuschenstill“, lobte Annika Treutler) und dem Ort. Schön, dass der Beitrag vom Magdalene Melchers (ein Porträt über die Gezeitenkonzerte mit vielen Klangbeispielen und Künstler-Interviews) noch gesendet wurde.
Zum Abschluss wurde es musikalisch (zumindest für den Zuhörer) wieder etwas lockerer. François Bornes „Fantaisie brillante sur des airs de Carmen“ ist Oper in Kleinformat und zum Mitsummen. Doch was nach außen hin beherzt und leichtfüßig klingt, ist technisch extrem anspruchsvoll, vor allem für das Klavier. Getrampel und Standing Ovations zeigten: die Musiker spielten diese kniffligen Stellen mühelos und leidenschaftlich. Leider ging das Konzert dann doch bis eine Minute nach zehn, aber das machte nichts. Die Zuhörer vor Ort waren ja immer noch die wichtigsten Hörer. Sie wurden mit einer Zugabe von Manuel de Falla belohnt und johlten danach glücklich.
Wie viele Hörer tatsächlich am Radio, vor dem Laptop oder auf der Autobahn das Konzert gehört haben, können wir nicht sagen. Für die Abendstunden gibt es keine Einschaltquoten im Radio. Auch eine Aufzeichnung darf aus rechtlichen Gründen nicht verbreitet werden. Das gehört eben auch dazu: Man ist live dabei – oder eben nicht. Wer am Freitagabend live in Ochtersum und wer live am Radio dabei war, konnte ein wunderbares Konzert von einem eingespielten Team erleben. Ein für alle Seiten beglückendes Ergebnis. Am Ende waren sich viele einig über den nächsten Schritt bei den Gezeitenkonzerten. Die Live-Übertragung im Fernsehen muss her!