Wenn sich der Fußball schon bei allen Adjektiven der Kunst bedient („virtuoser Ballkünstler“, „filigraner Techniker“), holen wir doch mal einen der strapaziertesten Begriffe der letzten Woche zurück in die Kunstrezension: das „Team“. Und alles was dazu gehört: „Team-Arbeit, Team-Zusammenhalt, Team-Geist, Team-Denken usw. usf..
Kammermusik ist Team-Arbeit, wer weiß das nicht? Aber in Zeiten des besonderen Team-Denkens kann man das gerne mal betonen. Kratzt das Violoncello blöd rum, kann die Violine nichts Schönes leisten. Sind die Einsätze, Pausen, Dynamik, Melodienführungen nicht gemeinsam abgestimmt, wird’s nichts beim Wettbewerb. Und leider hat auch die Kunst ihre Turniere und Wettkämpfe.
Während so viele junge Kammermusiker wie junge Gladiatoren gegeneinander antreten müssen, um die Gunst der Jury und überhaupt eine Wertschätzung zu erhalten, schweben oberhalb dieser traurigen und veränderungsbedürftigen Atmosphäre ein paar Lichtgestalten im Pantheon. Sie sind die Champions League. Sie spielen anders, besser. Technik, Stil, Ton. Individuell und doch als Einheit. Und doch kennt sie außerhalb der Klassikwelt kein Mensch. Wo bleibt der Vertrag zwischen Adidas und Christian Tetzlaff?
Das Tetzlaff Quartett spielt in dieser Liga. Dass es zwischen Wien und Baden-Baden die Gezeitenkonzerte mit in den Tourplan integriert, hätte man vor vier Jahren niemandem abgekauft. Jetzt betritt Christian Tetzlaff am Sonnabend zum dritten Mal eine ostfriesische Bühne. Aus dem Freundschaftsdienst für Matthias Kirschnereit ist eine dreijährige Geschichte geworden, die mehrere hundert Menschen, ja sogar eine ganze Kulturlandschaft verändert hat.
Gemeinsam mit Tanja Tetzlaff, Elisabeth Kufferath und Hanna Weinmeister gründete er vor zwanzig Jahren das Quartett. Neben den vier Solokarrieren und anderen Verpflichtungen kommt das Quartett für einige Konzerte jedes Jahr zusammen. Die Johannes a Lasco Bibliothek ist vermutlich der beste ostfriesische Spielort für Kammermusik dieser Klasse. Hier, wo alte und moderne Mauern zusammen gefunden haben, entfaltet auch die Musik ihre alten und neuen Strukturen. Als Programm haben sich die vier Musiker in diesem Jahr drei Streichquartette ausgesucht, die die Geschichte eben dieser Gattung erzählen.
Mit Haydns Streichquartett Nr. 25 C-Dur op. 20/2 startet der Nachmittag mit der urtypischen Form des Streichquartettes. Zugleich spitzt das Werk Haydns Innovationsbedürfnis zu. Wenig ist hier von der vergnüglichen Wiener Unterhaltungskultur zu spüren. Haydn überrascht mit einer Fuge im Sechsachteltakt, die alle Instrumente gleichberechtigt einwebt; auch das Adagio steht im schweren und ungewohnten c-moll und atmet formalen Aufbruch. Wie klingt das beim Tetzlaff Quartett? Nun, haben Sie Christian Tetzlaff schon einmal gehört? Wenn nicht, lesen Sie bitte nicht weiter. Sie haben in den nächsten Tagen genug zu hören.
Jetzt denken Sie daran: Christian Tetzlaff mag zwar der berühmteste der vier sein, aber es gibt ja noch drei! Multiplizieren Sie diese Klasse von Christian Tetzlaff (im aktuellen Fußballjargon: „Spezialkraft“) und erhalten, tja, das beste „Team“ der Kammermusik. Hier bekommt das „in den Raum spielen“ eine völlig neue Bedeutung. Wo hört man eine solche Dynamik, wo solche Pianissimo-Landschaften, wo eine solche schwebende Klarheit? Es ist, als ob das Stück einen völlig anderen Geist atmet. Wo andere nur Musik spielen, wird hier Musik gemeinsam erdacht. Wo sich andere höchst erfolgreiche Solokünstler eher übertrumpfen wollen, steht hier der gemeinsame musikalische Gedanke im Zentrum.
Mit Mozarts Streichquartett Nr. 15 d-Moll KV 421 geht der erste Teil weiter. Die Entwicklung der Gattung wird hier deutlich, denn Mozarts Quartette sind eng mit dem Namen Haydn verknüpft. Gleichzeitig verlässt er alle ausgetretenen Pfade. Das gespenstische, berühmte Mozart-d-Moll (Don Giovanni!) entfaltet sich hier zu erster Größe. Das stille und konzentrierte Publikum trägt seinen Teil bei.
Nach der Pause hat das Streichquartett endgültig alle Fesseln abgelegt und klopft zwischendurch mal bei den großen Jungs der Sinfonie an, die immer in den großen Konzertsälen abhängen. Auch das Tetzlaff Quartett klingt gelegentlich, als ob noch eine ganze Ersatzbank heimlich mitspielt. Schuberts monumentales Streichquartett Nr. 15 in G-Dur ist schon ganz Spätwerk. Dur, Moll, Leben und Tod. 45 Minuten lang tiefe Erschütterung. Dringend wünscht man sich eine Einspielung dieser drei Werke. Bei ihren vielen Verpflichtungen kommen die vier eher selten im Studio zusammen. Ein Jammer. Jetzt kann ich diese Streichquartette nicht mehr hören. Es kommt nichts an diese Darbietung heran.
Ein hingerissenes Publikum bleibt schließlich stehen. Champions League. In Emden! Ein Hoch auf den Moment, der immer bleibt. Hätte ich doch mal ein Selfie gemacht…