Ein älterer Herr im gepflegten Anzug betritt vorsichtig die Bühne von Gut Horn in Gristede. Er setzt sich nicht in einen Sessel, wie man es einem 83-Jährigen wünschen würde. Nein, er setzt sich auf den Klavierhocker, dieses rückenlehnenlose kleine Holzding, auf dem er in seinem Leben wohl mehr Zeit verbracht hat als auf normalen Stühlen, geschweige denn in gemütlichen Sesseln. Dieser ältere Herr braucht es nicht gemütlich. Dafür ist er scheinbar noch zu gerne unterwegs, mit seinen Vorträgen über die Musik, die Literatur, und alles, was zwischen diesen beiden Künsten liegt, die er immer begeistert aufgesogen hat und die er (zumindest die Musik) auf der höchsten Weltbühne vorgetragen hat. Poetisch wolle er auch anfangen, sagt er und verbindet Musik und Sprache in einer fantasievollen Annäherung an Beethovens Spätwerk. Da ist von hohen und tiefen Landschaften die Rede, von den stärksten Gefühlen, die nur Beethoven in ihrer ganzen Komplexität und Einfachheit, Erhabenheit und Profanität künstlerisch ausdrücken konnte. Ehe man sich versieht, steckt man mittendrin im Denken dieses älteren Herren, dessen unglaubliche Lebens- und Wirkungsgeschichte ihn wie eine Aura begleitet.
Man muss sich also kurz kneifen, um endgültig zu glauben, dass der große Alfred Brendel tatsächlich bei den Gezeitenkonzerten ist.
Ich erinnere mich, dass meine Großmutter, es muss mindestens zehn Jahre her sein, mir Karten für einen Brendel-Soloabend in Hamburg schenkte. Die Karten waren ziemlich teuer, doch leider wurde das Konzert abgesagt, und wir hörten uns statt Haydn und Schubert etwas schräge Gitarrenmusik in Hamburg an. Ich hatte Brendel also verpasst und war damals etwas traurig, weil Alfred Brendel der einzige berühmte Pianist war, den ich als ungefähr 14-Jähriger kannte. Ich ging davon aus, ihn nicht mehr zu sehen und vergaß ihn leider ein bisschen. Ein paar CDs (darunter das Abschlusskonzert aus dem Jahr 2008 und Schubert-Sonaten) und ein Interviewband („Ausgerechnet Ich“) liegen aber zuhause rum und so fing ich an, Alfred Brendel in den letzten Tagen wieder zu entdecken.
Er hat sich immer gegen die Bezeichnung „Philosoph am Klavier“ gewehrt, und doch gibt es keinen vergleichbaren Pianisten, der sich so intensiv, so intellektuell und persönlich mit Musik auseinandersetzt wie Alfred Brendel.
„Nein, ich war nie süchtig nach Auftritten. Aber es ist schön für mich, noch etwas vermitteln zu können. Das hat damit zu tun, dass meine musikalische Entwicklung noch weitergeht und ich gerne andere Leute daran teilnehmen lasse. Mein 80-jähriges Hirn mag etwas selektiv geworden sein, aber musikalisch wächst ihm immer noch etwas zu“, sagt er in dem wirklich lesenswerten Interviewband von und mit Martin Meyer. Geltungssucht ist in Gristede wirklich nicht zu spüren. Vielmehr erlebt man auch vorher und hinterher einen eher scheuen, sehr höflichen Alfred Brendel, der auch bei einer scheinbar unspektakulären Lesung nichts dem Zufall überlasst. Vormittags spricht er das gesamte Programm durch, klärt die Musikbeispiele ab, testet den Flügel. Dass er nach der Lesung keine Interviews geben will, weil er sie nicht mehr ausstehen könne, wird respektvoll zur Kenntnis genommen.
Mit einer angenehmen Stimme liest er nun also aus seinem Essay über Beethovens letzte drei Sonaten, die diese Form an ihre Grenzen führen und zugleich alle musikalischen Innovationen (aber auch barocke Rückgriffe) bündeln, die Beethovens Spätwerk auszeichnen. Ich gestehe: an einigen Stellen war es schwer, gedanklich mitzuhalten. Wenn Querverweise zu den Streichquartetten kommen oder die für Musiker selbstverständlich erscheinende Harmonielehre thematisiert wird, kann es für den Musiklaien ganz schön anspruchsvoll werden. Geht man ohne Rüstzeug in so einen Vortrag, kann man einiges mitnehmen, aber auch vieles zurück lassen. Brendel ist sich dessen wohl bewusst, und so spickt er den Vortrag mit allgemeineren Überlegungen zu Beethovens Leben. An einigen Beispielen macht er deutlich, wie sich bestimmte Themen verhalten, oder wo Beethoven sich ganz klar an anderen Werken bediente.
Es gibt ein kleines, sehr schönes Buch von Edwin Fischer über Beethovens Sonaten. Brendel kennt es natürlich, obwohl ihm dessen eher gefühlsmäßige Annäherung an Beethoven zu kurz greift. Dafür ist er auch zu sehr Analyst. Er seziert die Sonaten und deutet sie anhand seiner Beobachtungen. Gleichzeitig bezieht er alles mit ein, was über die Sonaten geschrieben worden ist. Wie von Fischer oder auch Thomas Mann, dessen „Doktor Faustus“ sich ja in einer kurzen Passage mit der letzten Sonate beschäftigt. Zum Ende wird natürlich der Schluss dieser Sonate gespielt, die in diesem Jahr bei den Gezeitenkonzerten bereits von Lars Vogt interpretiert wurde. Gemeinsam lauscht der Saal den ausklingenden Tönen, dann bedankt sich Alfred Brendel höflich und verschwindet wieder unauffällig.
Jetzt sitze ich hier und höre nicht Beethoven, (weil die Gesamteinspielung noch bestellt werden muss), sondern das von ihm geliebte „Jeunehomme“ Klavierkonzert von Mozart, das er bei seinen Abschiedskonzerten spielte. Es ist erstaunlich, dass er dieses jugendliche Werk wählte. Natürlich spielte er auch Haydn und Schubert, die großen Eckpfeiler seines Lebens. Aber der Mozart ist von einer altersweisen Frische, wie sie vermutlich nur Alfred Brendel erlangt hat. Einem Musikfreund, der aus einer anderen Zeit stammt, in der klassische Musik noch überaus bedeutsam war. Für ihn hat sie auch im hohen Alter nichts an ihrer Faszination verloren. Das Nachdenken und Schreiben über Musik ist für ihn das persönliche Spätwerk geworden. Für uns ist es eine große Bereicherung.