Teilnehmer der Gustav Mahler Akademie Bozen und Mitglieder der Englisch Baroque Soloists in Sengwarden mit Bach pur I
Besonders dankbar bin ich immer für einige konzertfreie Tage im Festival, nicht nur um mich physisch auszuruhen, sondern auch um das Gehörte noch einmal nachwirken zu lassen. Nach dem grandiosen Konzert in Aurich gestern hatten die Stipendiaten der Gustav-Mahler-Akademie natürlich einen etwas erschwerten Stand. Auch das reine Bach-Programm ist sicher gewöhnungsbedürftig. Eigentlich schließe ich mich der allgemeingültigen Meinung an, dass er der größte Komponist aller Zeiten ist. Da wird gerne Robert Schumann zitiert: „Wir sind alle Stümper gegen ihn!“.
Aber es hilft ja nichts. In der ausverkauften Kirche Sengwarden war für mich noch Platz in der letzten Reihe in der Ecke. Aufgrund eines großen Herrn etwas vor mir fiel der auch eher in die Kategorie „Hörplatz“. Doch warum nicht? Denn beim Hören bemerkt man schnell: Die haben was drauf. Los ging es mit einer Trio-Sonate des alten Meisters in G-Dur, von der die Echtheit zweifelhaft ist. Was soll das denn heißen? Das Programmheft gibt darüber erfreulicherweise Auskunft: Es wurde eine bereits existierende Basslinie verwendet, die Bach oder ein Bach-Sohn, da ist man sich nicht sicher, kontrapunktisch ausgearbeitet hat. Ulf Brenken zitiert hier einen wohlwollenden Musikwissenschaftler mit „Arbeitsökonomie“. Haben wir es etwa mit dem Dieter Bohlen des Barock zu tun?
Die Künstler präsentierten die Sonate kurzweilig und mit schönen dynamischen Abstufungen. Allerdings schien das Klima den Instrumenten zu schaffen zu machen, es wurde sehr häufig nachgestimmt. Gefolgt wurde dieser Auftakt von der „Suite imaginaire“, Marke Eigenbau. Entgegen der Programmreihenfolge! Sünde!
Verschiedene Solisten präsentierten Werke aus einigen bekannten Bach-Suiten oder Solowerken aus Bachs Köthener Zeit, trotz vieler persönlicher Rückschläge vielleicht sein Schaffenshöhepunkt. Hier beginnt er zum Beispiel die Arbeit am „Wohltemperierten Klavier“, dem ersten Klavierstück in allen Tonarten des Quintenzirkels.
Die sehr jungen Künstler spielten ihre Stücke durchaus virtuos, und sie hatten sich einiges vorgenommen: Es mag nicht so klingen, aber diese Musik ist eine der schwersten. Sie enthält wenig der sogenannten komplizierten Spieltechnik, aber pfuschen ist absolut tabu. Bachs Stücke sind komplett auskomponiert, jede Note hat ihren genauen Platz und muss genau richtig und absolut sauber kommen, sonst hört es jeder. Der Applaus bescheinigte ihnen gute Arbeit, und nach einer sehr kurzen halben Stunde ging es in die Pause, die alles andere als ein Sommernachtstraum war. Möge Rudi Carrell eines Tages erhört werden…
Der zweite Teil des Konzerts wurde von Carolin Krüger (Viola) und Bachs Chaconne aus der zweiten Solopartita eröffnet, ein sehr bekanntes Werk. Für uns Geiger natürlich die absolute Blasphemie, aber es klang sehr schön und hochvirtuos, was man Bratschern ja gar nicht zutraut. Die Transkription war meisterlich, gerade die Klänge auf der tiefen C-Saite, die der Geige fehlt, verschafften dem Stück eine ganz neue Klangdimension. Auch die vielen Doppelgriffe und Arpeggio-Stellen waren absolut sauber vorgetragen. Ich freue mich, bald mehr von ihr zu hören!
Den Abschluss bildete das 5. Brandenburgische Konzert, in einer etwas kleineren Besetzung. Das fand ich sehr gelungen, denn dadurch kam dem concertino, also der Solistengruppe, mehr Bedeutung zu. Bach beherrscht einfach die gesamte Bandbreite des Ausdrucks, ist seine Musik doch oft sehr ernst und von tiefer Trauer geprägt (Matthäus- und Johannespassion…) ist dieses Konzert voll von lebendiger Fröhlichkeit, vor allem im schnellen Thema des ersten Satzes. Zu hören ist außerdem die erste Solokadenz eines Cembalos in der Musikgeschichte am Ende des ersten Satzes, wo das restliche Concertino plötzlich aussteigt. Musikhistorisch absolut wegweisend. Nach einem sehr gefühlvollen zweiten Satz und einer moderat angegangenen, aber kraftvoll endenden Fuge zum Abschluss brandete Beifall und Fußgetrampel auf. Als kleinen Rausschmeißer gab es die Badinerie aus der 2. Orchestersuite, die komplett heute Abend in Marienhafe zu erleben sein wird. Also freuen wir uns auf mehr vom großen alten Meister…Falls Sie keine Karte mehr bekommen konnten, seien Sie nicht traurig! 2017 werden die Gezeitenkonzerte zwischen dem 23.06. und dem 13.08. stattfinden. Wenn es noch einmal Bach-Konzerte gibt, werde ich sicher im Publikum sitzen!
Dieses Konzert war Bestandteil des SPREAD-Projektes. Aus einer internationalen Zusammenarbeit zwischen der Accademia Gustav Mahler Bolzano (Italien), dem Gustav Mahler Jugendorchester in Wien (Österreich), The Monteverdi Choir and Orchestra Ltd in London (England) und den Gezeitenkonzerten der Ostfriesischen Landschaft (Deutschland) entstand das Projekt SPREAD (Skills, Practise and Recruitment of European Musicians for tomorrow. Audience Development in classical music.), das aus dem Creative Europe Programm der Europäischen Union (Projekt Nr. 2015-1148/001-001) gefördert wird. Ziel ist es, ein Netzwerk für die Ausbildung von jungen Musikern zu bilden, die dazu prädestiniert sind, die besten Orchestermusiker der Zukunft zu werden. In den eindrucksvollen Kirchen Sengwarden und Marienhafe sind diese jungen Musiker zusammen mit ihren Dozenten von den English Baroque Soloists zu erleben. Die UNESCO hat mittlerweile die Schirmherrschaft für SPREAD übernommen, gibt es mit den Weltnaturerbestätten Dolomiten und Wattenmeer doch ein direktes Bindeglied von Süd nach Nord.