Das Auftaktkonzert am 19.06. in der Auricher Lambertikirche
Am 19. Juni 2015 um 20:02 Uhr wurde die vierte Saison der Gezeitenkonzerte von Herrn König eröffnet – Herrn Pastor Heinfried König, Hausherr der Auricher Lambertikirche. Seiner kurzen Begrüßung („Musik ist, was unserer Seele gut tut.“) folgten eine Ansprache durch den 48. Präsidenten der Ostfriesischen Landschaft, Rico Mecklenburg („Im Wesen der Musik liegt es, Freude zu bereiten.“) und eine Rede des künstlerischen Leiters der Gezeitenkonzerte, Prof. Matthias Kirschnereit („Ein sehr, sehr glücklicher Moment, auf den ich mich lange gefreut habe.“). Dank zu sagen galt es besonders dem traditionellen Sponsor der Eröffnungskonzerte, der Oldenburgischen Landesbank.
Dann übernahmen die Musiker das Kommando. Zuerst betrat der 23-jährige Pianist Kit Armstrong, sehr jung und schon eine Künstlerpersönlichkeit, das Podium und spielte das „Italienische Konzert“ (BWV 971) von Johann Sebastian Bach. Seine quicklebendige Interpretation schien die spätbarocke Entstehungszeit des Werkes zu ignorieren und Bach um Jahrzehnte zu verjüngen – als wäre er der große Bruder der Klassiker Haydn oder sogar Mozart. So schwungvoll und leidenschaftlich und aus der Zeit gezogen hat man diesen Bach noch nicht gehört.
Nach dem tosenden Applaus für Kit Armstrong betrat das Signum Quartett den Kircheninnenraum. Die vier ebenfalls noch jungen Musiker gelten bereits heute als eines der bemerkenswertesten Streichquartettensembles, das international unterwegs ist: Kerstin Dill und Annette Walther (Violinen), Xandi van Dijk (Viola) und Thomas Schmitz (Violoncello) stellten sich in Ostfriesland mit dem anspruchsvollen Streichquartett Nr. 5 (op, 92) von Dmitri Schostakowitsch vor. Das dreisätzige Werk, weil durchgehend gespielt, ist eine Herausforderung an die Konzentrationsfähigkeit aller Anwesenden. Das Stück ist sehr klangintensiv, an lauten wie an leisen Momenten mangelt es nicht, und Gegensätze – romantische, fast lustige Melodien, einprägsame Motive, kontrapunktische Verwicklungen und scheinbarer musikalischer Stillstand mittels langer Notenwerte mit nur wenig thematischer Entwicklung – prägen das gut halbstündige Geschehen. Ganz eindeutig „Erwachsenenmusik“, die oft anfangs der Sätze noch friedliche Atmosphäre verändert sich innerhalb der Sätze in aggressives Aufbegehren oder verdampft zu akustischem Staub. Großer Beifall auch hier für die ansteckende konzentrierte Leistung der Musiker, die das Publikum in den Bann des Werkes zogen.
In der regenfreien Pause an diesem wetterunbeständigen Tag erholten sich Geist und Seele von den bisherigen Eindrücken. Leider war selbst diese lange Konzertpause für einige Besucher ziemlich genau sechs Minuten zu kurz. Denn nun kam erneut Kit Armstrong auf die Bühne und spielte „Sechs kleine Klavierstücke“ (op. 19) von Arnold Schönberg. Was das in der Eröffnungsrede des künstlerischen Leiters stellvertretend für die in den bisherigen drei Festivaljahren aufspielenden Interpreten für seine Aufmerksamkeit gelobte Publikum an Hustenattacken bisher verheimlicht hatte, holte es nun in wenigen Momenten leider unüberhörbar nach, so dass ich mir eine stillschweigende Wiederholung der Schönberg-Stücke schon deshalb gewünscht hätte… Freundlicher Beifall nach dem Verklingen des letzten der sechs Stücke aus dem Jahr 1911 mit seinen „Sterbeglocken“ für Gustav Mahler.
Das Abschlussstück des Auftaktkonzertes der diesjährigen Gezeitenkonzerte, die unter dem Motto „Neue Bahnen“ (so Schumann 1853 in einem Artikel über Brahms) stehen, war ein grandioses Werk des Hamburger Komponisten Johannes Brahms: Sein Klavierquintett (op. 34), ein „Monolith“ (Kirschnereit), ein Riesenwerk in vier Sätzen, fast eine Dreiviertelstunde lang. Das merkwürdigerweise wieder besser konzentrierte Publikum nahm voller Spannung teil an dieser Musik, wobei Kit Armstrong und das Signum Quartett gemeinsam auftraten. Das eigentlich gegen den kammermusikalischen Strich gebürstete Quintett (fast eine Art Sinfonie ohne Orchester) hört man oft als Klaviergewitter, dem die vier Streicher wenig entgegenzusetzen haben. In Aurich war das anders: Kit Armstrong nahm seinen Part weit zurück, verweigerte fast die möglichen Gewaltanwendungen, die sich speziell in donnernden Bässen anboten, und so schufen die fünf Musiker, vom Klavier ausgehend, eine freundliche musikalische Welt, die das sperrige Klavierquintett in seiner Aufführungsgeschichte nicht oft erlebt haben dürfte. Vielleicht wurde sogar die eine oder andere Erwartungshaltung mit dieser Interpretation enttäuscht. Am Ende eines langen, fast dreistündigen Konzertabends brachen aber alle Dämme – das Publikum dankte stehend applaudierend, und man machte sich positiv aufgewühlt auf den Heimweg.
Die Gezeitenkonzerte 2015 haben begonnen. Der Zug ist abgefahren, zumindest für über die Hälfte der 32 Veranstaltungen, denn die sind schon ausverkauft. Volle Fahrt voraus!