Wir umgeben uns gerne mit Personen, Sachen und Traditionen, die wir kennen. Das Neue ist oft anders, ungewohnt, fremd. Und dann kommt es auch noch so großgeschrieben daher: „Neue Musik“. Manche fröstelt es da schon. Brr, das kapier ich eh nicht. Bin zu dumm, zu nervös, wo ist mein Mozart, wo sind meine Beatles?! Politisch und gesellschaftlich müssen wir in diesen Tagen unsere Stärke beweisen, dass wir Neuen und Anderen aufgeschlossen, tolerant, hilfsbereit begegnen. Ist der Alltag also nicht schwer genug, warum sich abends im Konzert anstrengen für neue Töne und Klänge? Viele suchen oft das beseelte Glück, das wir nach einem Beethoven empfinden, auch bei der zeitgenössischen Musik und sind oft enttäuscht. Avantgarde ist nicht leicht, kann uns aber verändern. Unser Hören ist kulturell determiniert. Was schön, schräg oder unzumutbar ist, lässt sich nicht in objektiven und absoluten Parametern festhalten. Und sicher: Nur weil ich einen Stein auf den Boden werfe und das „Gravitas opus 1“ nenne, ist das noch nicht Avantgarde und hat großen Wert. Neue Musik darf und muss sich kritischen Ohren aussetzen. Ohne Neue Musik wäre nur Vergangenheit. Wer am Sonnabend in Hesel war, konnte sich davon überzeugen: Ja, es kann erschöpfend sein, ungewohnt, schwierig, unverständlich, aber doch immer spannend, fordernd, verändernd.
Wir erleben also das Aleph Gitarrenquartett in der ausverkauften Heseler Kirche barock, klassisch und vor allem zeitgenössisch. Bachs Kontrapunkte aus der „Kunst der Fuge“ und Adriano Banchieris Fantasien geraten himmlisch, farbig, warm. Da ist es, das beseelte Glück. Was für ein Sound von vier Gitarren, was für ein gezupftes Piano, was für eine Klarheit.
Stephan Storck singt an der Stuttgarter Oper. Nebenbei komponiert er. Für die Hörer ist es daher ein absolutes Privileg, dass sie in Hesel in den Genuss einer Uraufführung in Anwesenheit des Komponisten kommen. Matthias Kirschnereit interviewt den Komponisten vor der Uraufführung. Beide verbindet eine lange gemeinsame Vergangenheit, kennen sie sich doch seit der Detmolder Schulzeit. Storck studierte unter anderem bei Lachenmann, der als direkter Vergleich zu den eigenen Stücken aber nicht zwingend genannt werden muss. Storck geht es um Stimmung (en) mit Mitteln der Verfremdung, weniger um eine Abfolge narrativer Elemente. Kirschnereit berichtet von seinen eigenen Hörerfahrungen mit Lachenmanns Musik. „Nach zwanzig Minuten wollte ich aus der Oper ‚Das Mädchen mit den Schwefelhölzern’ rausgehen“, gesteht er. Im Publikum atmen viele innerlich auf. Wir sind nicht alleine mit unseren Gefühlen bei Neuer Musik! Selbst große Musiker fühlen sich dabei bisweilen unwohl! Wo ist die Tür?! Aber Kirschnereit hielt durch und beschreibt den Opernabend als Ereignis, das sein Hören verändert hat. Storcks „Vier Bagatellen“ beschreiben einen Zustand, der mit ungewöhnlichen Mitteln (Alltagsgegenstände als Gitarrenslide, gezischten Sprechlauten) ausgedrückt wird. Großer, ehrlicher Applaus.
Spannend ist das Quartett (2007) von Georg Friedrich Haas, das mit ungewöhnlichen Stimmungen das Zwölftonsystem auflöst. Es entsteht ein Sound, dem man sich nicht verweigern kann. Flächige Gebilde mit einer flirrenden Akustik und Klangfarbe, die an großflächige Gemälde erinnern und nirgendwo hinsteuern und doch packend sind.
Man kann die Studioversion bei Youtube nachhören, was bei allen Konzertgängern nur Enttäuschung auslösen wird. Im Vergleich zum Liveerlebnis verliert die Aufnahme deutlich. Intensität, Lebendigkeit und Sound sind in der Heseler Kirche unmittelbar und bis zur letzten Ecke im Kirchenturm differenziert und klar.
Die wunderschöne Heseler Kirche ist der perfekte Ort für das Gitarrenquartett und auch der Deutschlandfunk, der das Konzert aufzeichnete, war sehr zufrieden mit der Akustik. Übertragen wird es im nächsten Jahr (der Termin wird noch bekannt gegeben) und die Hörer erwartet ein hochkonzentriertes Konzert, das herausfordernd, aber nicht zuletzt durch das brillante Können der Musiker und den Moment der Uraufführung ein besonderer Abend war.
Nach dem grandiosen Waldkonzert im letzten Jahr sorgt Hesel also wieder für eine Überraschung. In der Wüstung Kloster Barthe wurde die Vergangenheit mit Leben gefüllt, jetzt pulsierten die Gegenwart und Zukunft der Musik. Eines ist sicher: in diesem ostfriesischen Dorf passieren aufregende Dinge.
Schön, dass sich die Förderer, die Gemeinde Hesel zusammen mit der Raiffeisenbank Hesel, für die Unterstützung dieses besonderen Gezeitenkonzertes entschieden haben.