Während man noch in der Emder Johannes a Lasco Bibliothek seinen Platz sucht, erklingt von allen Seiten Musik. Das Münchener Kammerorchester unter der Leitung von Konzertmeister Daniel Giglberger wartet bereits an der Seite auf den Startschuss und stimmt die Instrumente. Klassisch modern geht es los: Sándor Verres’ „Vier transsylvanische Tänze“ (1944) basieren zwar auf ungarischen Volksliedern, lösen sich aber davon und finden eine eigene Sprache.
Max Regers „Lyrisches Andante“ wird vom Kammerorchester sanft ausgebreitet. Ein Traum, der zeigt, dass das Ensemble eines der profiliertesten in Deutschland ist und dass in der Bibliothek ein Orchester immer noch die Beste aller Besetzungen ist.
Ein Wahnsinniger. Völlig berauscht. Held der Salons. Strotzend vor Virtuosität und mit einem treffsicheren Gefühl für das Gefühl, das Zärtliche. Es gibt kein dramatisches Vorspiel vom Orchester im ersten Klavierkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy, sondern nach einem rauschhaften Crescendo setzt das Klavier nach wenigen Takten ein. Und wie es einsetzt. Rasant klettert es sich zu Fanfaren hinauf, bleibt selten stehen, rennt und rennt und sieht dabei auch noch anmutig aus. Matthias Kirschnereit ist natürlich der geborene Interpret für diesen Komponisten. Mendelssohns Musik strahlt, wärmt, ist süß wie langsam schmilzende Nougat-Schokolade. Das kann man im zweiten Satz fühlen, das an einigen Stellen an die Lieder ohne Worte erinnert, von denen Kirschnereit eines als Zugabe spielt und die noch im August als eine mit Spannung zu erwartenden Einspielung vorliegen werden. Für die Pause reichen die bisherigen CD’s für jede Menge Autogramme und selbstredend sind die als historisch zu bezeichnenden Einspielungen aller drei (!) Klavierkonzerte der Renner.
Nach der Pause betritt Matthias Kirschnereit noch einmal die Bühne. Wehmütig sagt er: „Die letzte Note des Klavierkonzertes (übrigens ein B) war auch meine letzte Note bei den Gezeitenkonzerten 2015.“ Durch die Reihen geht ein Crescendo von „Oooohhhh“.
Er betont, dass die Gezeitenkonzerte der Ostfriesischen Landschaft auch im vierten Jahr noch einmal explodiert sind. Bislang nur ausverkaufte Konzerte sprechen dafür. Zufriedene Künstler, begeisterte Zuhörer und innovative Spielorte wie beim Abschlusskonzert sind ein Anreiz für Förderer (in diesem Fall eine private Förderung durch Frauke Dreessen!), in dieses Festival zu investieren. Nach einem Werbeblock für den stetig wachsenden Freundeskreis und dessen Aktivitäten im Herbst, Winter und Frühling verabschiedet sich der künstlerische Leiter von der Bühne. Wie bei den Konzerten in den letzten Jahren überließ er den Orchestern den zweiten Teil.
Musikalisch steht im zweiten Teil noch ein 30 Minuten Monolith, den ich in Emden zum ersten Mal höre. Josef Suk ist vor allem als profilierter Geiger in die Musikgeschichte eingegangen. (Berühmter war jedoch sein Enkel mit dem gleichen Namen.)
Dass der Schwiegersohn von Dvořák auch komponierte, bleibt eher eine Randnotiz. Häufiger aufgeführt wird die Serenade in Es-Dur op. 6, die er mit 18 Jahren schrieb, und slawische Melancholie. Man hört vieles in dieser Serenade heraus. Alte Elemente der Wiener Klassik, tschechische Volksmusik (aber im Vergleich zu seinen Zeitgenossen sehr bedacht eingesetzt) und spätromantisches Denken. Bisweilen gerät das etwas lang, etwas überzogen sehnsuchtsvoll, doch wenn man sich erst in den Klang des Orchesters verliebt hat, spielt es kaum eine Rolle.
Süßlich endet der frühe Abend noch einmal mit Regers Lyrischem Andante. Draußen scheint noch warm die Sonne. Zart klingen die Streicher und seufzen sich in die Hörgänge. Der Sonntagnachmittag schmilzt dahin und wirkt wie eine Blase in Dur, die dank des Münchener Kammerorchesters und Matthias Kirschnereit ohne Mühe stundenlang andauern kann. Wehe dem, der da hineinsticht! Sunday, sweet Sunday!