Auftakt der Gezeitenkonzerte mit der NDR Radiophilharmonie, Andrew Manze und Matthias Kirschnereit
Die St. Magnuskirche in Esens ist groß, für einheimische Verhältnisse fast schon riesig. Errichtet 1848-54, haben bei Konzerten 1.000 Menschen darin Platz, davon etwa die Hälfte auf einer umlaufenden Empore, die einem Rang im Theater nicht unähnlich ist. Allerdings ist die Sicht ab der zweiten Reihe eingeschränkt. Nun fand hier 2018 erstmals das Eröffnungskonzert der Gezeitenkonzerte der Ostfriesischen Landschaft statt: „Leinen los!“ – und auf in die siebte Saison!
Am 16. Juni spielte hier eines der besten deutschen Orchester gemeinsam mit dem künstlerischen Leiter der Gezeitenkonzerte Werke von Ludwig van Beethoven und Johannes Brahms. Die NDR Radiophilharmonie und ihr Chefdrigent Andrew Manze waren aus Hannover angereist, um mit dem Pianisten Matthias Kirschnereit aufzutreten. „Ein Traum geht in Erfüllung“, sagte dazu der künstlerische Leiter in seiner Ansprache nach der Pause.
Zunächst fanden sich mehr als eintausend Zuhörer – ausverkauft, bzw. nur noch „Hörplätze“ – bei so gut wie trockenem Frühsommerwetter voller Vorfreude vor der Kirche ein. Der Einlass durch zwei geöffnete Türen (ein weiterer Zutritt war den Musikern vorbehalten) dauerte seine Zeit und bewies mir mal wieder, dass im ländlichen Ostfriesland Hektik keine Rolle spielt, Geduld dafür umso mehr.
Kurze Begrüßungsreden (handgestoppte acht Minuten – Dirk Lübben) von Gemeindepastor Thomas Arens („Herzlich willkommen!“) und Landschaftspräsident Rico Mecklenburg („Guten Abend, Leinen los!“) gingen voraus, dann übernahm die Musik.
Matthias Kirschnereit spielte den Solopart in Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur op. 58 – und der Flügel stand so dicht am Podiumrand, dass die Zuhörer in den ersten Reihen sicherlich jeden Wimpernschlag des Interpreten registrieren konnten. Ich saß in Reihe 11, etwa im ersten Drittel des Kirchenschiffs, und mich überraschte, wie gut die Akustik dieser 170 Jahre alten Kirche die Klänge transportieren half: wenig Hall, nur bei sehr lauten Passagen gingen Nuancen verloren, dafür spielte aber auch ein gut 50-köpfiges Profi-Orchester im Altarraum.
Die Interpretation des Konzerts rückte Beethoven in den Rang eines frühen Romantikers. Ab und zu hatte ich den Eindruck, Frédéric Chopin hätte gerade um die Ecke geschaut und ein wenig mitkomponiert – jedenfalls klang es so. Matthias Kirschnereit versteht es sehr gut, diese Gefühlswelten aus den Noten über die Tasten nachvollziehbar zu gestalten.
Wie großartig aber auch die NDR Radiophilharmonie unter der Leitung von Andrew Manze an der Gestaltung der Musik beteiligt war, wurde exemplarisch am brachialen Streichereinsatz zu Beginn des zweiten Satzes deutlich, der offenkundig genauso „sollte“ und als Steilvorlage für den Solisten diente, dessen berührend-choralartige Reaktion deshalb „wie aus einer anderen Galaxie“ daherkommen konnte.
Nach drei Sätzen Beethoven: tosender Applaus, Dirigent und Solist umarmten sich mehrfach auch hinter den Kulissen, zwei Zugaben (Franz Schuberts „Ungarische Melodie“ D 817 und Claude Debussys „Mouvement“ L 110/3), dann war Pause. Die blieb regenfrei und auch sonst trocken (Wein). Ein Gezeitenkonzert-affines Ehepaar, dass ich glücklicherweise mehrmals jährlich in Ostfriesland treffe, überredete mich, die zweite Konzerthälfte doch mit ihnen von der Empore aus zu erleben, da sei auch noch Platz. Gesagt – getan!
Nun stand ich auf der Empore im linken Eck der Kirche, quasi direkt über den ersten Violinen. Wer hier keine gute Sicht hatte (und das ist auf der Empore in Esens ab Reihe 2 nun einmal definitiv der Fall), dem boten die Techniker der Gezeitenkonzert-Organisationsmannschaft einen besonderen Service: Per Videoinstallation wurde eine Art Fernsehübertragung aus verschiedenen Blickwinkeln mit wechselnden Schnitten in die Kuppel über dem Altar an die Decke geworfen, so dass die Musiker für ziemlich jeden Konzertbesucher sichtbar waren – notfalls wenigstens indirekt.
Andrew Manze dirigierte, so muss man es sagen: seine NDR Radiophilharmonie, denn das Orchester folgte den musikalischen Interpretationsansätzen des Leiters in Brahms‘ Sinfonie Nr. 3 in F-Dur op. 90 aufmerksam und engagiert. Wie Manze und seine Musiker diese Brahms-Sinfonie anpackten, voller Wucht, wenn es krachen durfte, und ebenso voller Zerbrechlichkeit in entsprechenden Passagen, das hatte höchstes künstlerisches Niveau. Angenehm „old school“, wenn man bedenkt, wie heutzutage auch die Musik der Romantiker oftmals „historisch informiert“ dargeboten wird, wobei dann meistens der direkte Weg von der Musik zum Herzen des Publikums bei so viel Analytik auf der Strecke bleiben kann.
Das war in Esens jedenfalls mal gar nicht das Problem. In dieser Kirche – die ja kein originärer Konzertraum ist – traf die direkte Interpretation der Sinfonie genau ins Schwarze. Irgendwo habe ich mal gelesen, in Brahms‘ Sinfonien entwickele sich musikalisch auch ganz schön viel Wut, Enttäuschung und Frust über ein – vielleicht – nicht ganz gelungenes Privatleben. Möglicherweise war dies in Esens zumindest mein Schlüssel zum berührenden Live-Erlebnis mit der Dritten.
Wenige Augenblicke, nachdem der leise Schlussakkord nach vier Sätzen Brahms verklungen war, brandete mächtig Beifall auf, für den sich Dirigent und Orchester bedankten. Und als Andrew Manze die Bühne dann wieder betrat, war das Publikum in der St. Magnuskirche zu Ehren der Musiker bereits aufgestanden und sorgte für minutenlangen rauschenden Beifall.
Nach dem Konzert zeigte sich, dass auch die NDR-Profis nicht ungerührt aus der Veranstaltung herausgekommen sind. Schon Matthias Kirschnereit hatte in seine Ansprache die oftmals geäußerte Erfahrung vieler großer Künstler, die hier in den Jahren seit 2012 aufgetreten waren, diese „konzentrierte Anteilnahme“ des überwiegend ostfriesischen Publikums, erwähnt. Und Andrew Manze formulierte nach Konzertschluss ein besonderes Lob für das, was er hinter seinem Rücken gefühlt haben wird: „Such a great audience!“
Ulf Brenken