Dritter Tag: Ausatmen in Bunderhee
Auf dem Polderhof in Bunderhee herrscht reges Treiben. Einige Dutzend Menschen sind in Gange, dabei sind es noch mehr als zwei Stunden bis zum Beginn des Abschlusskonzertes der diesjährigen Gezeitenkonzerte der Ostfriesischen Landschaft. Vorbereitungen für eine wirkliche Großveranstaltung – die größte, die es seit mehr als 120 Konzerten in vier Festivaljahren bisher gegeben hat. Über 1.000 Besucher werden nachher die umgestaltete Reithalle füllen, mehr als 120 Musikerinnen und Musiker werden dort spielen. Es herrscht bereits jetzt eine Arbeitsatmosphäre wie im Bienenstock.
Im umgebauten Reitstall wurden Holzböden ausgelegt, darauf in über 30 Reihen jeweils 32 Stühle aufgestellt, so dass ein Konzertsaal entstand, wo vorher Pferde ihre Runden drehten. Auf der Bühne hat ein fast beliebig großes Orchester Platz, heute ist es das Junge Philharmonische Orchester Niedersachsen (JPON), das vor drei Tagen in Westerstede, vorgestern in Otterndorf und gestern in Hannover aufgetreten ist. Das Programm war immer gleich und ist also das selbe wie heute: Von Felix Mendelssohn Bartholdy die Ouvertüre zu „Ruy Blas“ (von 1839) und das e-Moll-Volinkonzert (beendet 1844), nach der Pause Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 7, die „Leningrader Sinfonie“ (von 1941). Der Physiker und Firmengründer Helmuth Aiso Brümmer, Hausherr auf dem Polderhof, ist mit seiner ENOVA Energiesysteme GmbH & Co. KG als Förderer in faszinierender Weise in Vorleistung getreten, um den Besuchern dieses Konzerterlebnis zu ermöglichen. Traditioneller Förderer des Schlusskonzertes und auch hier mit im Boot sind die Raiffeisenbanken und Volksbanken in Ostfriesland.
Einspielprobe, Catering-Aufbau, Einweisung des Orga-Teams – alles war heute eine Spur größer und länger. Ab halb fünf konnten die Besucher die Halle entern, aber viele hatten schon vorher darum gebeten, einen Blick hineinwerfen zu dürfen, die meisten wollten dabei ein Foto des riesigen Raumes machen. Dann wurde es schnell sehr voll (und sehr warm), und kurz nach 17:00 Uhr saßen alle Besucher auf ihren Plätzen – nun waren es tatsächlich und wahrhaftig weit über 1.000 Zuhörer in Bunderhee!
Landschaftspräsident Rico Mecklenburg kam heute im Unterschied zum gestrigen Rihm-Abend (vor 90 Zuhörern) nicht ohne Mikrophon aus, um alle Anwesenden zu begrüßen und sich bei den Sponsoren zu bedanken. Der künstlerische Leiter Matthias Kirschnereit, sichtlich begeistert von diesem sich abzeichnenden fulminanten Finale seiner vierten Festivalsaison, sprach auch zum Publikum. Dann betrat der Dirigent Andreas Schüller die Bühne und das (hier noch nicht in Höchstbesetzung aufgestellte) JPON spielte die „Ruy Blas“-Ouvertüre. Es klang verblüffend gut, denn ohne Hörerfahrung für diese „Reithalle“ ließ sich für mich im Vorfeld nicht abschätzen, was akustisch passieren würde. Dass die jungen Musikerinnen und Musiker ihre Instrumente beherrschen würden und es nicht zu unzumutbaren Klangverstümmelungen kommen konnte, davon war selbstverständlich auszugehen. Großer Beifall, Auftritt des Solisten Tobias Feldmann.
Der preisgekrönte, 24-jährige Nachwuchsgeiger spielte mit dem JPON das berühmte Mendelssohn-Violinkonzert. Mit einer Selbstverständlichkeit, dass es ein musikalisches Vergnügen wurde. Der Mittelsatz (Andante) hatte für meinen Geschmack ein zu rasches Tempo, aber wenn der Altersdurchschnitt der Ausführenden um 50 Prozent unter dem des Publikums liegt, muss ich (der ich diesen Schnitt nicht mehr senke) vielleicht langsam über das Älterwerden und dessen Folgen für mein Musikempfinden nachdenken. Außerdem hatte mich Wolfgang Rihm ja gerade belehrt, dass Musik immer einen großen Spielraum für Interpretation lässt, von dem das Rezensentenwesen gut leben kann. Und dies hier ist schließlich ein Blogbeitrag – und eben keine Rezension.
Der begeisterte Beifall sorgte dafür, das sich der junge Solist nicht lange bitten lassen musste, um eine Zugabe auszupacken. Er spielte „Recuerdos de la Alhambra“ (Erinnerungen an die Alhambra in Granada) des spanischen Komponisten und Gitarristen Francisco Tárrega (1852-1909), eigentlich eine Tremolo-Etüde für Gitarre, die als Geigenstück ihren ganz eigenen Reiz hat. Er habe einen spanischen, gitarrespielenden Freund, der ihm dieses Stück gezeigt habe, und dann sei er eben auf diese Idee gekommen, erzählte mir Tobias Feldmann in der Konzertpause.
Es wurde ein langer Konzertnachmittag, denn die abschließende Schostakowitsch-Sinfonie begann um 18:45 Uhr und endete um 19:56 Uhr. Weshalb ich das so genau weiß? Der Organisationschef der Gezeitenkonzerte, Dirk Lübben, hatte sich der ihm vorliegenden Information angeschlossen, das Werk würde 80 Minuten dauern, obwohl der Programmheftautor 70 Minuten vorgegeben hatte, denn er kennt Einspielungen in etwa diesem zeitlichen Rahmen und weiß aufgrund der Partitur, dass es keine Möglichkeiten gibt, in der „Leningrader“ irgendwelche Wiederholungen zu erfinden, die das Stück derart verlängern könnten. Dennoch, das darf ich Ihnen hier versichern, hat auch Dirk Lübben jede Minute der Sinfonie sehr genossen und war von ihrer Kürze nicht enttäuscht.
Das JPON trat nun mit voller Kapelle auf: 69 Streicher, 15 Holzbläser, 21 Blechbläser, 7 Schlagzeuger, dazu zwei Harfenistinnen und ein Pianist – 115 Musiker plus Dirigent bevölkerten die Bühne. Die „Leningrader“, deren Entstehungs- und Wirkungsgeschichte mich zum bisher längsten Programmheftbeitrag für die Gezeitenkonzerte animiert hatte (sechs Seiten Text), nahm Fahrt auf und ließ im bedrückenden ersten Satz, dessen gewaltige „Invasionsmusik“ des Mittelteils wie Keulenschläge auf das Publikum niederging, bereits ahnen, dass ein besonderes Hörerlebnis begonnen hatte. Der empfindliche, angeblich auch durchaus humorvolle (so der Komponist) zweite Satz, dessen raffinierte Instrumentation ich besonders liebe, hatte ebenfalls keine Schwächen. Meine Konzentrationsfähigkeit wurde dann im dritten Satz sehr auf die Probe gestellt, denn nach dem Klaviertrio-Abend in Norden (Freitag), dem Rihm-Abend auf der Evenburg (Sonnabend) und dem bisherigen Konzertablauf am heutigen Sonntag kam ich hier an meine Grenzen. Und weil ich mir einen Rest Energie für den Schlusssatz aufheben wollte, kann ich zum Adagio am wenigsten sagen. In der Tat, ein ruhiger Beginn des letzten Allegro non troppo, der Absturz, der langgezogene Sarabande-Abschnitt, die letzte Steigerung, dann der ultimative Schluss (dessen Melodietöne an Anton Bruckners Achte mehr als nur erinnern, wenn man wie ich erstmal darauf gestoßen wird – vergleichen Sie mal!), der sicher keinen Sieg in C-Dur darstellt.
Und nun – Ausatmen in Bunderhee! Ich kann mich nicht erinnern, ein Konzertpublikum schon jemals in nur wenigen Sekunden fast komplett stehend Applaudieren gesehen zu haben. Minutenlanger Beifall, der Holzboden litt hörbar unter begeistertem Trampeln, Andreas Schüller ließ diverse Solisten und später alle Instrumentengruppen einzeln aufstehen. Der Jubel nahm lange kein Ende.
Draußen hatte es ein paar Regentropfen gegeben, als würde nun auch das Wetter bedauern, daß die vierte Saison der Gezeitenkonzerte vorbei ist. Der nichtexistente öffentliche Nahverkehr zum Leeraner Bahnhof durfte mich leider nicht davon abhalten, mit dem letzten Zug um 21:41 Uhr die Rückreise nach Hamburg anzutreten. 7.680 Stunden liegen zwischen dem letzten Akkord des Schlusskonzertes 2015 und dem Beginn unserer fünften Saison am 24. Juni 2016 (um 20:00 Uhr).
Was soll man so lange machen? Ich bitte um Vorschläge!