Zweiter Tag: Luftanhalten in Leer
Dann kam er durch die Hotellobby auf mich zu, ein stattlicher Mann, und lächelte kurz. Ich stellte mich vor, er drückte mir die Hand, schaute freundlich zu mir herunter und fragte, woher er mich kenne. Ein Missverständnis, wir hatten uns nie zuvor gesehen. Er amüsierte sich und meinte, in letzter Zeit habe er so viele Menschen getroffen, da wisse er manchmal auch nicht immer, wer das nochmal war. Ich sei aufgeregt, ihn zu treffen? „Kein Stress!“
Wolfgang Rihm, der größte lebende Komponist unserer Zeit, hat das ihm gewidmete Gezeitenkonzert auf dem Schloss Evenburg in Leer-Loga besucht. Er war mit der Bahn aus Karlsruhe angereist, blieb über Nacht und fuhr am folgenden Tag wieder nach Hause. Es habe ihn gereizt, ein so umfangreiches Programm mit eigenen Werken zu hören, inklusiver zweier Streichquartette und vier weiterer Werke, nur eines davon in Auszügen.
Tagsüber wurde bereits geprobt. Die ehrwürdige – naja: neugotische – Evenburg hatte akustisch einiges auszuhalten, als Vasyl Kotys neben dem Ländler (von 1979) Wolfgang Rihms Klavierstück Nr. 5 „Tombeau“ (von 1975) durchspielte. Ein startender Düsenjet ist im Vergleich zu den vielen lauten Stellen in dieser Musik vermutlich nicht wesentlich eindrucksvoller. Verwunderte Parkbesucher (im Saal im ersten Stock blieben aus Lüftungsgründen jetzt schon einige Fenster offen) konnten dann dazu noch Karo Khachatryans Tenor mit vier Liedern nach Paul Celans „Atemwende“ (von 1973) und zwei Liedern nach Gedichten von Rainer Maria Rilke (von 2000) hören. Danach gingen die beiden Interpreten ein paar Stunden spazieren und die anwesenden Teammitglieder Salat essen.
Das renommierte Minguet Quartett, gegründet 1988, schon im vergangenen Jahr bei unserem Komponistenporträt mit Peter Ruzicka dabei, übte nachmittags entspannt die beiden Streichquartette Nr. 4 (von 1980) und vor allem Nr. 11 (komponiert 1998-2007), das sie gerade erst sehr zur Freude des Komponisten in einer schönen CD-Einspielung verewigt hatten. Ulrich Isfort und Annette Reisinger (Violinen), Aroa Sorin (Viola) und Matthias Diener (Violoncello) sind ein so großartiges Ensemble, dass man sich darüber fast nicht mehr vergegenwärtigt, welch‘ schwierigen Partituren der sog. Neuen Musik sie musikalisches Leben einzuhauchen im Stande sind.
Als Wolfgang Rihm die (jawohl: neugotische) Evenburg betrat und lächelnd die Meinung zur Kenntnis nahm, dass hier doch wohl vor allem ältere Musik hineinpassen würde, betrat er das Gebäude mit der Bemerkung: „Führen wir es seiner Bestimmung zu!“ Der herzlichen Begrüßung mit den Minguets und den beiden jungen Künstlern Vasyl Kotys und Karo Khachatryan folgte dann der Aufstieg in den Saal. Das Konzert konnte beginnen.
Alle neunzig Plätze im Saal waren schon lange ausverkauft. Landschaftspräsident Rico Mecklenburg fand wie immer freundliche Worte und äußerte seine Neugier auf neue Einsichten zur modernen Musik. Wolfgang Rihm nahm das zum Anlass, einen ersten Hinweis zu geben: Wissenslücken wären nicht das Thema, es ginge beim Musikhören doch immer um individuelle Hörerfahrungen: „Fragen Sie Ihren Nachbarn, jeder wird zur Musik etwas anderes sagen.“ Ich hatte dann die Ehre, Wolfgang Rihm eine Eingangsfrage zu stellen, und brachte es fertig, ihn kurz auf die in den 70er Jahren „unmoderne“ Idee der Streichquartettkomposition anzusprechen. Es folgten einführende Worte des Komponisten zu Anlass und Umständen dieser Art von Komposition(en), anschließend spielte das Minguet Quartett das dreisätzige Streichquartett Nr. 4.
Ein kurzer Bühnenumbau folgte, viel Platz war nicht, und ich fragte Wolfgang Rihm ein bisschen mutig nach der künstlerischen Motivation, schwierige Lyrik (Celan, Rilke, Hölderin etc.) zu vertonen, was sich bei Komponisten unserer Tage häufig beobachten lässt. Auch hierzu gab es kompetente Erläuterungen, zum Beispiel den Hinweis darauf, dass ein Gedicht sich möglicherweise nicht auf Anhieb „verstehen“ lässt und auch er einige Zeit benötigt habe, etwa einige Goethe-Zeilen für sich zugänglich zu machen. Sehr interessant seine Idee, ein Gedicht gleich mehrfach zu vertonen – etwa eines von Heinrich Heine: „Sechs Lieder, vielleicht kommt noch ein siebtes dazu.“ Dann sangen Karo und Vasyl seine vier Lieder aus „Atemwende“.
Zum Klavierstück Nr. 5 „Tombeau“ und zu allen folgenden Werken moderierte Wolfgang Rihm dann ohne eröffnende Fragestellung des nebenberuflichen Programmheftautors. Die gedanklich aufregenden Kurzreferate, zum Beispiel, als er direkt nach der Pause quasi über seine eigenen Worte „es geht weiter“ zu Stolpern schien und musikphilosophische Einlassungen anschloss, haben mich schwer beeindruckt. Musik, eine Kunst, die in der Gegenwart nicht existieren kann, weil sie immer schon vergangen ist und sich nicht „aufhalten“ lässt – sicher alles nicht neu im Sinne von noch nie gedacht, aber in diesem Rahmen, von Wolfgang Rihm formuliert, schon mit dem Bedauern verbunden, dass sich die Zeit nicht anhalten lässt.
So kam es nach der Pause zur Aufführung der beiden etwas längeren Rilke-Lieder, gefolgt vom Ländler (Klavier solo) und dem umfangreichen, weit mehr als halbstündigen, einsätzig-vielsätzigen Streichquartett Nr. 11, wieder gespielt vom Minguet Quartett. Ich hatte Wolfgang Rihm gebeten, uns vor der Aufführung dieses letzten Werkes des Abends eine besonders ausführliche Einleitung zu geben, und er erzählte von der speziellen Entstehungsgeschichte, seiner Mühe mit dem Arbeitsprozess (das nachfolgende Quartett Nr. 12 wurde sogar vorher fertig!) und den ersten Erfahrungen mit dem Werk anlässlich der Uraufführung in Essen. Es folgte der für mich musikalische Höhepunkt des letztlich fast dreistündigen Konzertes, wobei es nicht leicht zu erklären wäre, woraus die Faszination dieser emotional bewegenden Musik letztlich besteht. Luftanhalten in Leer! Über Musikempfindung zu schreiben, ist eigentlich nicht möglich. Als ich zu Wolfgang Rihm sagte, mich habe das Streichquartett „mitgenommen“, aber er habe es vergleichsweise leichter, denn er würde das Stück ja bereits kennen, lächelte er sein ganz spezielles Lächeln.
Mein Abend mit Wolfgang Rihm endete bei je zwei Bier („Wein trinke ich zu Hause genug“) und etwas griechischem Essen ganz in der Nähe seines Hotels. Inzwischen weiß ich auch ein paar gaaaaanz wichtige Details aus seinem Leben, zum Beispiel, dass er sich überhaupt nicht für Fußball interessiert, nur ein einziges Mal (in den 60er Jahren) ein Spiel besucht hat und dabei Franz Beckenbauer in Karlsruhe hat spielen sehen… Dann verabschiedeten wir uns, und er drückte mir freundlich die Hand.