Nachtmusiken mit Matthias Kirschnereit in Völlen | Part I
Endlich Sommer in Ostfriesland! Unser Motto von diesem Jahr scheint sich allmählich zu rentieren. Vor dem Konzert in Völlen hatten wir eine richtig gute Zeit, denn der Ort ist schön, die Luft ist gut, und die Kirche ist von hohen Bäumen umgeben, die überall angenehmen Schatten spenden. Auch von innen ist sie sehr für Kammerkonzerte geeignet, ich saß ganz hinten an der Tür und hatte immer noch einen tollen Hörgenuss.
Mit hoher Erwartung sind alle angereist, denn dieses Konzert war eigentlich gar nicht vorgesehen. Das eigentliche Konzert findet erst am Donnerstag statt, doch die Nachfrage war so groß, und wir waren so schnell ausverkauft, dass wir dieses Zusatzkonzert eingerichtet haben. Vielen Dank an die flexible Kirchengemeinde Völlen und unseren Star des Abends, Matthias Kirschnereit, die dies ermöglicht haben. Auch dieses Gezeitenkonzert war wieder komplett ausgebucht.
Doch nun zum musikalischen Part: eins vorweg, das Konzert war toll. Aber es hatte ein bisschen von einem Schlagerabend, wenn man das Programm liest. Los ging es mit einem Lied ohne Worte von Mendelssohn. Gut, derer gibt es nicht gerade wenig. Doch zu einem Lied gehört ja eigentlich ein Sänger. Mendelssohn und seine Schwester Fanny Hensel haben den Sänger da rausgekürzt, übrig blieb das Klavier. Trotzdem kann man sich gut vorstellen, dazu zu singen.
Nach dieser ruhigen, aber intensiven Einleitung hatte Matthias die Leute gleich in seinen Bann gezogen und packte den zweiten Mendelssohn aus: 17 Variationen sérieuses in d-Moll. Ich liebe Variationen, denn sie zeigen, was man mit so einem kleinen Thema alles machen kann. Mendelssohns Arbeit war wegweisend für die Werke der spätromantischen Komponisten. Vielleicht kennt jemand die Variationen von Reger über ein Thema von Beethoven für zwei Klaviere. Ich durfte sie einmal in Leer erleben, sie seien „das Höchste an Klang, was man mit zwei Instrumenten erzeugen kann“. Ähnlich war es auch heute, das kleine Choralthema kehrte in jeder Gestalt und vielen Tempi wieder. Lang anhaltender Applaus. Zwischendurch fiel mir auf, dass es viel weniger Gehuste als sonst gab. Das hat zweierlei Gründe: 1. Matthias ist genial und 2. haben wir seit neuestem wieder Bonbons von Ricola, die einem das Konzert noch ein bisschen versüßen und die Geräuschkulisse angenehm halten. Werbeblock Ende.
Darauf folgend kam der erste wirkliche Schlager des Abends, Beethovens Klaviersonate 14, besser bekannt als Mondscheinsonate. Dieser besonders intelligente Beiname kommt wahrscheinlich vom gleichen Genie, das die Jupiter-Sinfonie von Mozart (eigentlich Nr. 41) so genannt hat. Im ersten Satz ist diese Interpretation ja noch zulässig. Aber dann? Im Allegretto tanzen wahrscheinlich die Hexen. Und im dritten Satz (Presto agitato) schiebt sich auf einmal die Sonne hinter den Mond und man wird vom grellen Licht geblendet. Anders kann ich mir das nicht erklären, Beethoven kann das nicht gewollt haben. Nichtsdestotrotz meisterte Matthias auch diese Aufgabe wunderbar, sogar alles auswendig. Mit Chopins cis-Moll Etüde und dem b-Moll Scherzo (5 bs! Iiiiih.) verabschiedete er uns in die Pause. Ich habe selten so passioniertes und dynamisch vollkommenes Klavierspiel gesehen. Anhand des gesamten Ausdrucks und der Körpersprache hatte ich immer das Gefühl zu wissen, was er meinte.
Nach der kurzen Pause im lauen Sommerabend ging es weiter mit Mendelssohns Schwester Fanny Hensel und den ersten Stücken des Abends, die ich nicht kannte. Sie wird allgemein ein wenig unterschätzt, habe ich das Gefühl, denn auch ihre Lieder ohne Worte haben mir sehr gefallen. Matthias erzählte, dass sie aber an ihrem Hochzeitstag mit einem Maler namens Hensel einen Brief an den Bruder Felix schrieb, dass ihre Hochzeit nichts an ihrer tiefen Liebe zu ihm ändere. Also am Tag meiner Hochzeit hätte ich wahrscheinlich anderes zu tun.
Gefolgt wurde diese kurze Einleitung von verschiedenen Rachmaninoff-Präludien. Besonders in Erinnerung blieb mir das g-Moll Präludium mit der Satzbezeichnung Alla Marcia. Matthias ist ein total feinsinniger Typ, aber irgendwie finde ich, dass richtig rustikale Musik wie dieses Stück im strengen Zweiertakt von ihm am besten klingt. Falls Sie bei Spotify sind, suchen Sie mal eine Aufnahme von ihm des „Wanderlieds“ in A-Dur von Mendelssohn. Genial!
Den Abschluss dieser Nachtmusiken bildete eine Sonate des argentinischen Komponisten Ginastera, der hier eher unbekannt ist. Eigentlich fehlte mir in diesem Konzert noch ein bisschen was Altes.
Der Hauptsatz (3: Adagio molto appassionato) erinnere Matthias an eine Wanderung durch den malaysischen Urwald um vier Uhr morgens: Schwül, drückend und voller Überraschungen. Genau so spielte er auch. Das Haltepedal war permanent gedrückt, wodurch irre Klänge erzeugt wurden, schräge Dissonanzen, scheinbar ohne Auflösung.
Der letzte Satz (ruvido ed ostinato, bedeutet so viel wie rau/ruppig) war ebenfalls geprägt von ungewöhnlichen Rhythmen und zahlreichen Schlusskadenzen, doch dann ging es wieder anders weiter. Als er doch endete, brandeten Applaus und Bravo-Rufe auf. Er musste drei Zugaben geben: Schuberts Ungarische Melodie, eine Sonate von Scarlatti und Alla turca von Mozart. Schlagerabend eben! Allerdings habe ich Alla Turca so auch noch nicht gehört: Matthias stoppte immer mal fast ab und wurde sehr langsam, um dann bei der „Opa-Hoppenstedt-Stelle“, wie ich sie nenne, ins Presto zu gehen. Diese Dynamik gefiel mir viel besser als das Herkömmliche. Hoffentlich bleibt uns dieser wunderbare Pianist noch lange als künstlerischer Leiter der Gezeitenkonzerte erhalten!