Christian Tetzlaff, einer der anerkannt weltbesten Geiger, war am vergangenen Freitag zu Gast in der St.-Georgs-Kirche zu Sengwarden. Gemeinsam mit Matthias Kirschnereit spielte er Violinsonaten von Janáček, Beethoven, Mozart und Ravel. Und um meine Presseschelte gleich zu Beginn des Blog-Beitrags loszuwerden: Nicht alle maßgeblichen Zeitungen Ostfrieslands hatten Rezensenten geschickt – dabei hätte dieses Konzert für kulturinteressierte Journalisten der Region doch sogar ein privater Pflichttermin sein müssen! Womöglich zog mancher die TV-Fernbedienung vor, um sich ein langweiliges Bayern München-Heimspiel anzuschauen? Welch ein Fehlgriff! Und dabei gab es noch nicht einmal Musik von György Kurtág…
Das Konzert begann mit der eigentlich etwas unzugänglichen Violinsonate von Leoš Janáček, die der tschechische Komponist in mehreren Anläufen zwischen 1914 und 1921 komponierte, und die schon einen Beigeschmack von bitterer Kriegserfahrung hörbar werden lässt. Christian Tetzlaff und Matthias Kirschnereit, die seit einem Vierteljahrhundert gemeinsam musizieren, fühlten sich vom ersten Takt an in diese Welt hinein und übertrugen die manchmal spröden, oft erstaunlich melodiösen, auch sperrigen Klänge des eigenwilligen Janáček-Stils auf das spannungsvoll zuhörende Publikum. Dagegen wirkte die anschließend vorgetragene klassische Violinsonate von Ludwig van Beethoven Nr. 6 A-Dur op. 30/1 von 1802 zwar nicht erholsam, aber doch auf alle Fälle beruhigend. Mit dem abschließenden, originellen Variationssatz entließen uns die beiden Künstler in die Pause.
Die Sengwarder Kirche hat nur einen Ausgang, und der Weg zum Gemeindehaus führt durch einen recht schmalen, heckengesäumten Weg. Es dauerte also entsprechend lange, bis alle Besucher ein wenig Luft schnappen, sich erfrischen und konditionell auftanken konnten. Das Wetter spielte mit, denn es blieb glücklicherweise trocken, und das Haase-Catering stand auch ohne Pavillon nicht im Regen.
Die zweite Konzerthälfte führte nun von der Klassik zur Nachromantik zurück und begann mit der e-Moll-Violinsonate KV 304 (300c) von Wolfgang Amadeus Mozart. Diese Sonate ist ein sehr spezielles Werk, der man ihren sonst so typisch erkennbaren Komponisten nicht unbedingt anhört. Mozart schrieb diese seine einzige Moll-Violinsonate (von insgesamt achtzehn) 1778 in Paris. Er hatte dort gerade den tragischen Tod seiner Mutter zu verkraften, die ihn als einziges Familienmitglied auf einer längeren Westeuropatournee begleitet hatte. Nun hieß es, die Familie zu informieren, die Formalitäten zu bewältigen und trotz allem künstlerisch wie wirtschaftlich zurecht zu kommen – was für ein Spagat! Mozarts e-Moll-Sonate klingt daher auch wie außerhalb der Zeit, an manchen Stellen wie Schubert, und sie erreicht jeden Hörer, der mit dem Herzen bei der Sache ist, in seinem tiefsten Innern. Meine Sitznachbarin, die das Stück noch nicht kannte, meinte anschließend, das man kaum darauf kommen würde, dass diese Sonate von Mozart sei. Christian Tetzlaff und Matthias Kirschnereit lieben dieses Stück hörbar und vermittelten ihre tiefe Vertrautheit mit der Musik dem weiterhin konzentriert lauschenden Publikum, so dass eine besondere Atmosphäre entstehen konnte – gerade hier, wo manches quasi „hinter den Noten“ steht. Das letzte Werk des Abends schloss dann den Bogen zu Janáček, denn es gab die Violinsonate von Maurice Ravel, beendet 1927, nach vier Jahren Arbeit. Auch Ravel ist ein eigensinniger Komponist, der keiner „Schule“ zugeordnet werden kann und zwischen Impressionismus und Neoklassizismus seinen ganz eigenen Weg gefunden hat. Es machte ihm gar nichts aus, sogar Jazzelemente in die Kammermusik zu integrieren, somit als Mittelsatz einen „Blues“ auszupacken, wobei Christian Tetzlaff die Geige stellenweise zur Gitarre werden ließ und Matthias Kirschnereit als kongenialer Partner die bitonale Basis legte. Vorab erklang der überwiegend verhaltene Dialog des Kopfsatzes (Allegretto), von den beiden Musikern wunderschön ausbalanciert dargeboten. Die von Ravel (ironisch?) diagnostizierte Unvereinbarkeit von Geige und Klavier, die ihn – absurderweise – nicht davon abhielt, eine Sonate für genau diese Besetzung zu schreiben, dokumentiert er dann im abschließenden Perpetuum mobile-Satz (Allegro), der den Geiger gefühlt noch einmal genauso viele Noten spielen lässt wie bereits seit Konzertbeginn, während nur der Pianist das thematische Geschehen präsentiert.
Den donnernden Applaus der begeisterten Konzertbesucher, die diese musikalische Sternstunde in Sengwarden miterlebten, konterte das Duo mit zwei Zugaben von Schumann und Beethoven, die wohl mit Augenzwinkern als Reminiszenz an das tolle 2012er Konzert in Remels gedacht waren.
Dieses ausverkaufte Konzert wurde vom Medienpartner der Gezeitenkonzerte, NDR Kultur, aufgezeichnet und wird demzufolge in naher Zukunft für alle Musikinteressierten jenseits der Sengwarder Besucher nacherlebbar sein. Da kann parallel Bayern egal gegen wen (oder sogar gegen Werder) spielen – man sollte vor dem Radio sitzen und der Musik zuhören, denn es wird unvergesslich bleiben.