Hallo, ich lebe auch noch! Die letzte Gezeiten-Woche musste ich leider auslassen, da ich mit dem Landesjugendchor Niedersachsen unsere Konzerte im September bei den Nds. Musiktagen vorbereitet habe. Nach einer Woche im Kloster Michaelstein (Blankenburg) und der Landesmusikakademie in Wolfenbüttel kam ich etwas hungrig (in Sachsen-Anhalt sind die Kartoffeln rationalisiert) und mit kreiselnden Ohrwürmern von Rautavaara, Monteverdi und Vaughan Williams zurück.
Auf mich wartete mein persönlicher Höhepunkt in diesem Jahr: Daniel Hope, hier bei uns in Ostfriesland. Kaum ein Gezeitenkonzert war so signifikant mit einem Namen im Vorverkauf verbunden: Werden die Konzerte oftmals „Leer“ oder ganz verwirrend „Christuskirche“ genannt, hieß dieses Konzert nur „Daniel Hope“ Für den bin ich vor zwei Jahren nach Groningen gefahren, es war ein unvergesslicher Abend. Korngolds Violinkonzert in der ersten Konzerthälfte, gefolgt von Brahms´ dritter Symphonie mit dem wunderbaren Noord Nederlansk Orkest. Die verhauene Matheklausur am Tag danach und die drei Stunden Heimfahrt wegen einer gesperrten Autobahn nimmt man da doch gerne in Kauf.
Gestern war unsere Anreise nicht ganz so lang, es sind nur 300 m vom Festivalbüro zur Lambertikirche, die ein kleines Raumwunder ist. 650 Menschen hätte ich der äußerlich gar nicht so großen Kirche eigentlich nicht zugetraut. Doch alles war möglich, der Einlass lief glücklicherweise ohne Tumulte und Massenpanik ab, und die Gäste, die auf Hörplätzen oben auf der Empore saßen, konnten Dank der Übertragung das Geschehen auf der Bühne auch überblicken. Ich hatte das große Glück, auf einem unbesetzten Presseplatz zu sitzen, also konnte ich alles sehen, den Geiger, den Pianisten, die Füße des Pianisten und das iPad. Daniel Hope spielt nicht etwa aus Papiernoten, sondern benutzt ein Tablet, bei dem er mit dem Fuß blättern kann. Sehr praktisch, aber die Pedale sind fürchterlich klein, ich würde bestimmt ständig zurückblättern.
Um Punkt 20:00 Uhr betraten zwei adrette Herren im besten Alter, gegelten Haaren und gut sitzenden Anzügen die Bühne: Daniel Hope und Pianist Sebastian Knauer. Ohne große Umschweife begannen sie mit Enescus Impromptu concertant in Ges-Dur (6 mal b! Wer macht nur so was?!). Dieses Musikstück machte seinem Namen alle Ehre, denn ständig passierte etwas, was man nicht erwartet hatte. Oft verharrte die Geige mit vollem Ton und sattem Vibrato auf einem Ton, während das Klavier eigentlich in der Melodie war. Eine gute Idee, das Programm zu tauschen, denn auf diesen für manche etwas verwirrenden, da freitonalen Auftakt konnte man sich beim folgenden Bach wieder ganz zuhause fühlen. Die c-Moll Sonate überraschte auf jeden Fall. Im ersten Satz, einer recht langsamen Sicilienne dachte ich zu Beginn, das wir versehentlich schon bei Mendelssohn gelandet sind. Die beiden Musiker spielten ausladend, mit kernigem Ton und machten die Phrasen groß. Sehr viel Pedaleinsatz am Klavier, dazu ein satter Streichersound. Ganz das Gegenteil von dem weit verbreiteten, eckig-barockem Stil, den man sonst so kennt. Aber das konnte auf jeden Fall überzeugen. Meine erste Assoziation war die Matthäus-Passion, „Erbarme dich“.
Im zweiten Satz wird es kompliziert: Eine Fuge, und was für eine. Die beiden gingen es sehr schnell an, die Satzbezeichnung Allegro ist dehnbar wie Kaugummi. Ich kannte diese Fuge nicht und musste mich unglaublich konzentrieren, denn die Tonsprünge waren sehr ungewöhnlich, und auch rhythmisch ließ sich kein klares Muster erkennen. Trotzdem riss es irgendwie mit. Dem Programmheft war zu entnehmen, dass es dreistimmig war, vielleicht liegt es daran. Zur Beruhigung für meine Nerven folgte ein etwas einfacher gestricktes Adagio, das sich eigentlich nicht veränderte, ein gleichmäßiger Rhythmus im Klavier, dazu eine sehr sängerische Geige. Auch wenn man es dem Pianisten nicht immer ansah, beide spielten mit großem Gefühl und das Zusammenspiel war sehr intensiv, gerade im langsamen Teil. Ich habe die Augen manchmal geschlossen, das mache ich sonst eigentlich nie. Es war aber sehr schön. Doch bevor man allzu sehr ins Träumen gerät, wird man von einem schnellen Tanz wachgerüttelt und die Sonate endet mit einer kraftvollen Kadenz. Beifall und Fußgetrampel auf dem dünnen Holz riss jeden Genießer aus seinen Gedanken.
Vor der Pause noch ein bisschen Mendelssohn, das kommt nach Bach immer gut. Die F-Dur Sonate wurde von Hopes Lehrer Menuhin gefunden und bearbeitet, daher passt sie gut in Daniel Hopes „Tribute“ an seinen großen Lehrer. Sie beginnt im Allegro vivace, was sich über viele Minuten durchzieht. Wahnsinnig anstrengend, wahnsinnig toll zuzuhören. Hatte ich die adretten Herren erwähnt? Mittlerweile hingen einige Strähnen aus der Mähne herunter. Aber es war unglaublich sympathisch. Die beiden hatten eine unglaubliche Energie, was das Publikum nach dem ersten Satz zu spontanem Beifall veranlasste. Eigentlich klatscht man ja nicht in einem Werk, doch dieses Mal störte es mich ganz und gar nicht, denn es war echte Begeisterung. Die Künstler wirkten auch nicht genervt dadurch. Auf diesen Hauptsatz folgte ein sehr lyrisches Andante voll von komplizierter Spieltechnik, wie Doppel- oder Dreifachgriffen, bevor die Sonate im „assai vivace“ ihrem donnernden Ende entgegen eilte. Der Mendelssohn war eindeutig der Höhepunkt des Abends, dafür sind die beiden einfach gemacht. Ihr Zusammenspiel passte perfekt aufeinander.
Nach einer langen, kalten Pause (endlich Sommer in Ostfriesland!) wurde die zweite Hälfte von Bartóks Rumänischen Volkstänzen eröffnet. Dieser Komponist hat einen ganz eigenen Stil, scheinbar profane Volksmusik mit freitonalen Elementen zu verbinden. Dafür ist er als Ungar auch weit gereist. Die Übergänge waren sehr fließend, irgendwann hatte ich ihn im Programm verloren. Aber es ging auch nur sieben Minuten. Ungewöhnlich, aber schön. Als kurzes Intermezzo kam ein Stück von Ravel, Kaddisch. Es handelt sich um eine Auftragskomposition, die Vertonung eines jüdischen Gebets. Den Anfang der Klavierbegleitung würde ich mir sogar zutrauen, es gab immer schön viel Pause und nur einzelne Akkorde. Das Stück war insgesamt sehr solistisch angelegt. Ein Wegweiser war es für den eher ruhigen Ausgang eines sehr intensiven Abends: Der Violinsonate von William Walton. Diesen Komponisten kannte ich nicht, aber er hat einen sehr engen Bezug zu Yehudi Menuhin, der auch die Uraufführung durchführte. Die Sonate ist erfüllt vom Schmerz des Verlustes der Geliebten des Komponisten. Schon die Satzbezeichnung Allegro tranquillo gibt darüber Auskunft. Die Musik war sehr ruhig, fast starr oder apathisch. Völlig unerwartet fiel die Geige mit einem immer wiederkehrenden, ausdrucksstarken Motiv ein. Der krasse Gegensatz zwischen dem äußeren Verhalten und der inneren Gefühlswelt wurde sehr deutlich: Augenscheinlich ruhig, doch eigentlich brodelt es im Inneren. Der zweite und letzte Variationssatz ist dann nicht mehr ganz so dramatisch, ein chromatisches Thema wird auf viele verschiedene Tempi und Dynamiken abgewandelt, bevor die Sonate ein virtuoses und brilliantes Ende findet.
Es wurde geklatscht, bis die Hände schmerzten und der Holzboden schien unter dem Getrampel jeden Moment einzukrachen. Belohnt wurde dies mit zwei Zugaben, einmal Summertime und ein weiteres Jazz-Stück, das ich nicht zuordnen konnte. Die beiden sind einfach großartig, auch nach dem Konzert war Zeit für Gespräche, ich habe sogar ein Foto! Und Daniel Hope wird in diesem Jahr noch einmal in Ostfriesland zu sehen sein, ich werde bald Karten haben…