Welcher Spielort könnte besser zu den Gezeitenkonzerten passen als die Deichkirche in Carolinensiel? Sie ist die einzige Kirche weltweit, die wirklich direkt auf dem Deich – mittlerweile ein sogenannter Schlafdeich – steht. Gemunkelt wird, dass den Carolinensielern ihre Kirche verordnet wurde. Mittlerweile sind sie jedoch ganz zufrieden mit der Tatsache, dass es sie gibt. So viele Einheimische aus dem Dorf wie hier hatten wir sonst noch nicht in unseren Konzerten. In den Städten ist es natürlich wieder etwas anderes. Wir haben uns auf jeden Fall über diesen Zuspruch und die Unterstützung durch den Kirchenvorstand sehr gefreut!
Isang Enders‘ Tag gestern verlief eigentlich so gar nicht nach Plan: Auf dem Weg nach Ostfriesland ging erst sein Handy kaputt, dann stand er auf der Fahrt von Dresden hierher Ewigkeiten im Stau und kam deshalb verspätet zur Probe. Abends wurde dann aber alles schlagartig besser! Sobald Andreas Hering und er die Bühne betraten, lag eine gewisse Spannung über dem Publikum. Das Konzert begann mit Schumanns Adagio und Allegro As-Dur op. 70 – zu spielen: langsam, mit innigem Ausdruck – rasch und feurig. Ein guter Auftakt also, und genau richtig, um der Aufmerksamkeit der Gäste in der fast ausverkauften Kirche gerecht zu werden. Das Spiel von Andreas und Isang zeugt von großer Spielfreude und Harmonie.
Locker moderierte Isang Enders durch das Programm, bezeichnete sich als „Produkt seiner deutsch-koreanischen Eltern“, die ihn nach dem koreanischen Komponisten Isang Yun (1917-1995) benannt hätten und verwies auf den Konflikt zwischen Nord- und Südkorea, der zur Zeit Yuns weitaus schlimmer war als heute. Dieser wurde 1967 vom südkoreanischen Geheimdienst nach Seoul verschleppt, wo er zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Nach internationalen Protesten wurde er zwei Jahre später freigelassen und lebte bis zu seinem Tod in seiner Wahlheimat Deutschland. Sein Werk „Nore“ (koreanisch für Gesungenes, Canto) war das nächste Stück. Im Anschluss gab es die Fünf Stücke im Volkston von Schumann. Beide Werke sind hinsichtlich des „gesanglichen Teils“ durchaus miteinander vergleichbar, verwenden jedoch unterschiedliche Tonsprachen.
Danach ging es in die Pause. Leider war das Wetter zu unbeständig als dass Haase Catering sich im Glockenturm direkt vor der Kirche hätte aufbauen können. Also gab es ein heißes Süppchen, Fisch und weitere Alternativen nebst Getränken im Gemeindehaus.
Auch im zweiten Teil des Programms standen Werke von Yun und Schumann. Espace I von Yun wurde fast dreißig Jahre später als „Nore“ komponiert. Ulf Brenken bezeichnet es in seinem Text fürs Abendprogramm augenzwinkernd als fast schon „altersmilde“. Den Schlusspunkt setzten zwei Werke von Schumann, als letztes die Drei Fantasiestücke op. 73. Das Publikum war restlos begeistert. Die lautstarke Forderung nach einer Zugabe hörte man auch draußen vor der Kirchentür. Gerne kamen Andreas und Isang ihr nach. Mein persönliches Gezeitenkonzerte-Halbzeit-Fazit: Es waren zehn wunderbare Konzerte unterschiedlichster Couleur mit interessanten Künstlern, die allesamt Appetit auf die nächsten zehn machen!
„Was bin ich froh, dass ich mich auf diese Kombination eingelassen habe!“ Es sei ja ein wenig gewöhnungsbedürftig gewesen, aber durchaus lohnenswert, neben dem bekannten Schumann die Werke des spannenden Koreaners Yun kennenlernen zu dürfen, sagte mir eine spontane Besucherin, die nachmittags den Aufbau bei der Kirche verfolgt und von Lothar Milkau geistesgegenwärtig ein Programm in die Hand gedrückt bekommen hatte und daraufhin zur Abendkasse gekommen war. Außerdem hätten die Musiker ihre Sache unglaublich gut gemacht: „So jung und schon so erfolgreich!”