Die Gezeitenkonzerte 2016 stehen unter dem Motto „SommerNachtsTraum“. Das stimmt für mich eigentlich nur zu einem Drittel: Vom Sommer merkt man hierzulande relativ wenig und Nacht ist es dann doch meistens erst nach Konzertende. Aber einen Traum durften wir erleben, wenn man sich an das Konzert am Freitagabend in Timmel zurückerinnert: Ganze 14 junge, aufstrebende Künstler des Studiengangs Master Kammermusik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien, bei den Gezeitenkonzerten auch “Gipfelstürmer” genannt, erwiesen uns mitsamt ihrem Dozenten, Prof. Oliver Wille, die Ehre.
Auftakt mit dem Duo Liepe
Dabei drohte der Abend ins Wasser zu fallen: Es regnete Bindfäden. Ein Wunder, dass noch keiner von uns krank ist, so oft wie wir in diesen Tagen nass werden. Auch organisatorisch war es gestern eine kleine Meisterleistung: 14 Künstler wollten noch proben, der Flügel musste gestimmt werden, Platzkarten ausgeteilt und das alles in weniger als zwei Stunden. Wir konnten pünktlich um 20:00 Uhr mit dem Duo Liepe beginnen. Professor Wille erklärte einleitend, dass diese Sonate in c-Moll eine Sonate des Aufbruchs sei. Damit hat er Recht, denn viele Experimente von Beethoven stehen in dieser Tonart, zum Beispiel die revolutionäre 5. Symphonie (da-da-da-daaaaaaa) oder auch die etwas unbekanntere Fantasie für Chor und Orchester, quasi ein Prototyp zum Schlusssatz der Symphonie 9. Ein „Auftakt nach Maß“, wie Béla Réthy sagen würde, denn die Sonate war vor allem laut und fröhlich und holte alle Besucher aus ihrem Regen-Tief. Das Duo war perfekt aufeinander abgestimmt, was bei Brüdern nicht zu verwunderlich ist.
Seayoung Kim (Violine), Jihi Hwang (Klavier) und Nuri Gil (Klarinette)
Gefolgt wurde diese Eröffnung von Bartóks „Kontraste[n]“. Bartók habe Volksmusik gesammelt und darin vertont. Trotzdem wurde bei der Aufführung schnell klar, warum es „Kontraste“ heißt, denn diese Musik kann man sich bei Florian Silbereisen auf gar keinen Fall vorstellen. Die ungewöhnliche Besetzung aus Violine, Klavier und Klarinette zeigte äußerst komplizierte Spieltechnik. Die Geigerin und der Klarinettist hatten sogar ein zweites Instrument mit, wahrscheinlich ein etwas weniger wertvolles, um die älteren nicht durch das sehr harte Pizzicato kaputt zu machen. Unser Klavierstimmer Tamme Bockelmann hat sich bestimmt über den vorsichtigen Umgang mit seinem Flügel gefreut. Auch dieses Trio erntete viel Applaus.
Matthias Tönges (Bariton) und Daniel Rudolph (Klavier)
Damit war die erste Hälfte schon ziemlich lang, doch es geht noch weiter: der erste Liederzyklus in der Musikgeschichte: „An die ferne Geliebte“ von Ludwig van Beethoven. Beethoven schrieb für eine Frau, die er nie „besitzen“ konnte. Kein Wunder bei diesem Frauenbild. Die Musik kontrastiert dieses: Der Liederzyklus ist nicht nur musikalisch, sondern auch poetisch sehr schön:
“Und du singst, was ich gesungen,
was mir aus der vollen Brust
ohne Kunstgepräng erklungen,
nur der Sehnsucht sich bewusst.“
Vorgetragen wurde er indes von einem deutschen Bariton, was mich sehr gefreut hat. Die Nationalität ist natürlich kein Kriterium; was zählt, ist die Qualität. Doch wer sich heutzutage an den Musikhochschulen umschaut, wird feststellen, dass wir den Künstlern aus dem asiatischen Raum unterlegen zu sein scheinen. Doch Bassbariton Matthias Tönges und sein Partner am Klavier, Daniel Rudolph, bewiesen, dass es auch ohne frühkindliche Elitenförderung geht. In der Pause hatte der Regen dann auf mysteriöse Weise aufgehört, sodass wir uns alle draußen ein wenig die Beine vertreten konnten.
Ylva Sophia Stenberg (Sopran) und Stéphane Bölingen (Klavier)
Nach der aufgrund des straffen Programms verkürzten Pause ging es noch einmal weiter mit Gesang, dieses Mal von der Sopranistin Ylva Stenberg und ihrem Partner am Klavier, Stéphane Bölingen. Sie schaffte es, ihre Gefühle so stark zum Ausdruck zu bringen, dass nach dem Abschluss des ersten Stücks, Strauss´ „Sie trugen ihn auf der Bahre bloß“ nur verhalten geklatscht wurde. Es war ein wenig Grabesstimmung zu spüren. Die nachfolgenden Lieder waren deutlich feierlicher und auch unbekannter, denn sie stammten von den schwedischen Komponisten Wilhelm Stenhammar und Hugo Alfvén. Stenhammars „Sverige“ könnte nach Aussage der Sopranistin sogar eine gute Nationalhymne sein. Vom Text her auf jeden Fall, denn außer dem bezeichnenden Titel „Sverige“ habe ich nicht viele andere Worte gehört. Viel Applaus. Ich hatte diesen Abend auch Gelegenheit, meinen Catwalk zu trainieren, denn nach jeder Darbietung wurden mindestens zwei Geschenke übergeben; jeder Künstler trat nur einmal auf.
Abschluss mit dem Quartet Berlin Tokyo
Den Abschluss eines meiner Meinung nach überlangen, aber doch sehr schönen Konzerts bildete Brahms´ Streichquartett. Das Quartett Berlin-Tokyo spielte ohne Frage fantastisch. Aber nach schon fast zweieinhalb Konzertstunden fiel es mir schwer, mich noch zu konzentrieren, und augenscheinlich ging es nicht nur mir so. Ein bisschen schade für das Quartett, das dennoch begeistern konnte. Am Ende des Abends stand ein abwechslungsreiches Konzert von einem Nachwuchs, der auf viele schöne Konzertstunden in der Zukunft hoffen lässt.