Neue Horizonte in der Deichkirche
Es gibt Konzerte, die öffnen neue Horizonte: Das Gezeitenkonzert mit Carolin Widmann und Matthias Kirschnereit am Sonntagnachmittag in der kleinen, aber sehr feinen Deichkirche zu Carolinensiel war so eins. Trotz nummerierter Plätze saßen alle 120 Gäste schon um fünf vor fünf auf ihren Plätzen. Dieses Auditorium ist für Künstler, die auf der ganzen Welt spielen, eine völlig neue Größenordnung und sehr inspirierend.
Carolin Widmann hatte das Glück, bereits am Vortag anreisen und sich tatsächlich ein wenig in Ostfriesland akklimatisieren zu können. So erklomm sie die Bühne und drückte zu allererst einmal aus, dass es ihr ein besonderes Vergnügen sei, mit diesem Vornamen an diesem Ort spielen zu dürfen. Sie habe seit der Uraufführung im März das für sie geschriebene Stück „In vivo“ von Pascal Dusapin erst ganze drei Mal gespielt, zuletzt zu Beginn der Woche in Chicago in den USA.
Wohl wissend, dass sich viele mit Neuer Musik schwer täten, kündigte Carolin Widmann an, dass es eigentlich keine schrägen Töne gebe. Dusapin sei eher Traditionalist und spiele einfach Geige. Das D sei ein zentraler Ton – sowie auch bei Bachs Violinwerken das D einfach gesetzt sei. „In vivo“, im Leben also, sei ein Kreislauf, der im 3. Satz nach einem Wutanfall (en colère) von Stille unterbrochen werde. Wir kennen das alle, wenn die Luft erst einmal raus ist, wird es stiller.
Mit diesen einführenden Worten, die viele im Publikum als sehr hilfreich empfunden haben, legte Carolin Widmann dann los. Für meine Ohren klangen einige Passagen des Dusapin-Werkes dennoch schräg, aber es war durchaus hörbar, weil abwechslungsreich und interessant. Ein Abschweifen war nicht nötig. Es war eine Freude, ihr zuzusehen und zu hören: Diese Vielfalt an Tönen, mal langgestrichen, mal als Pizzicato, leise, laut – irgendwann huschte etwas über die Saiten, reduziert ging es weiter, um dann wieder intensiver zu werden. Geendet wurde mit einem leisen Ton, gefolgt von Stille. Dann brandete ein großer Applaus auf, auch von denjenigen, die vielleicht nicht ganz so viel mit dem Stück anfangen, aber durchaus die künstlerische Leistung wertschätzen konnten. Carolin ging bestimmt vier Mal auf und ab.
Es folgte die Partita in d-Moll Nr. 2 für Violine solo von Bach, mit der Chaconne als letztem Satz. Und eben diese Chaconne war genau die, die viele der anwesenden Gäste bereits in abgewandelter Form, nämlich in einer Bearbeitung von Brahms für die linke Hand (!) am Klavier am Tag zuvor in der Neuen Kirche Emden von Anna Vinnitskaya erlebt hatten. Ich kann nicht sagen, welche Version dieser Chaconne ich bevorzuge, da es wirklich ein Erlebnis war, sie von der jungen Pianistin gespielt zu bekommen. Für Violine solo habe ich sie schon des Öfteren gehört und war nie so angetan. Die Interpretation von Carolin Widmann hat mich begeistert: Es war ein Vergnügen, ihr zu lauschen und beim Spiel zuzusehen. Sie spielte mit vollem Körpereinsatz, an der einen Stelle vermeinte ich, ein Aufstampfen des Fußes wie zur Unterstreichung gehört zu haben. Im Anschluss gab es sogar vom Herren vor mir, der sich ansonsten nicht so leicht beeindrucken ließ, ein anerkennendes Nicken. Es folgte Fußgetrappel und langanhaltender, tosender Applaus, der wiederum mit mehreren Auf- und Abgängen Carolin Widmanns belohnt wurde.
Als Anmoderation hatte die Geigerin erklärt, dass gerade diese Partita BWV 1004 weltberühmt geworden sei, aber auch viele Rätsel aufgebe. Entstanden ist sie bis 1720 nach dem Tod von Maria Barbara Bach, der Frau von Johann Sebastian Bach. Für Carolin Widmann ist das Werk seine Verarbeitung ihres Todes. Der Rhythmus erinnere sie an den Herzschlag und die Höhen und Tiefen, die das Leben beinhaltet. Gleichzeitig sei sie ein Symbol für das Leben: Der Dur-Abschnitt bilde einen perfekt goldenen Schnitt zum Moll und spiegele so das Leben mit all seinen Facetten, Kämpfen und Freuden.
Nach der Pause gesellte sich dann Matthias Kirschnereit, künstlerischer Leiter der Gezeitenkonzerte der Ostfriesischen Landschaft, einem der jüngsten, aufstrebenden Klassikfestivals in Niedersachsen zu Carolin Widmann, scheidende Intendantin des ältesten Kammermusikfestivals, der Sommerlichen Musiktage Hitzacker, dazu. Ursprünglich war ein Solorezital der von den International Classical Music Awards zur „Künstlerin des Jahres 2013“ gekürten Geigerin geplant. Dann jedoch hörte Matthias Kirschnereit sie vor einigen Monaten in Hamburg, als sie dort mit Sir Roger Norrington spielte. Spontan kam ihm die Idee, die Sonate für Violine und Klavier Nr. 2 d-Moll op. 121 von Robert Schumann mit ihr zusammen bei den Gezeitenkonzerten zu spielen, passe sie doch wunderbar zum Motto „Neue Bahnen“, da sie im selben Jahr wie der berühmte Aufsatz Schumanns über den jungen Brahms unter diesem Titel entstanden sei. Beide haben sie ihre Liebe zu diesem eigentlich spröden Stück entdeckt. Der erste Satz habe etwas rhythmisch Peinliches, so Clara Schumann. Gewidmet ist es Ferdinand David, dementsprechend auch die Tonfolge D A F (statt V) D im langsam beginnenden, dann ziemlich lebhaft werdenden ersten Satz, der für beide Künstler eine sehr ergreifende, brennende, aber auch schwere, melancholische Energie verbreite. Der zweite Satz sei eine Reminiszenz an Brahms. Im dritten sei das vorherrschende Thema Bachs Choral „Aus tiefer Not ruf ich zu Dir“. Der letzte Satz führt bewegt von Moll nach Dur.
Sprödigkeit konnte ich nicht entdecken. Schon der Einstieg war furios – laut und gewaltig. Behutsam machte die Geige weiter, sich sanft steigernd, bis das Klavier dazukam. Schnell war man in einer gewissen Stimmung gefangen, melancholisch, gefolgt von Energie, dann gequält und doch auch tröstlich: vielfältig und faszinierend und ein absolutes Erlebnis, diese beiden Künstler auf der Bühne zu erleben.
Natürlich folgte donnernder Applaus mit Standing Ovations; der Fußboden bebte. Sichtlich gelöst und getragen vom Applaus gaben Carolin Widmann und Matthias Kirschnereit eine schwungvolle Zugabe: der 2. Satz aus der ersten Sonate von Schumann, liebevoll und tänzerisch daherkommend.