Es ist die Musik, nicht der Interpret, der im Vordergrund stehen soll. Das klingt ein wenig idealistisch, aber auch sehr bescheiden, denn erst der Interpret kann doch die Musik zum Leben erwecken. Es geht also um die Musik, die es zu verstehen, zu präsentieren, zu leben gilt. Maria João Pires (71), eine der berühmtesten Pianistinnen unseres kleinen Planeten, stellt sich in den Dienst der Musik. Und damit gegen alles und jeden, der Musik zweckentfremden, vermarkten oder zur Selbstinszenierung nutzen will. Mit der Musikindustrie will sie nichts mehr zu tun haben. Der sicherlich hochdotierte Plattenvertrag ist gekündigt, die Konzerte werden seltener, doch die Begeisterung und die Demut vor der Großartigsten aller Künste ist geblieben. Der Besuch des Gezeitenkonzertes in der Neuen Kirche Emden mit Lilit Grigoryan und Maria João Pires war daher ein Pflichttermin.
Nachdem der ursprüngliche Termin krankheitsbedingt ausfallen musste, konnte man umso glücklicher sein, dass so schnell ein Ersatztermin gefunden wurde. Doch die Komplikationen wurden nicht weniger. Am Montag wurde der Flug abgesagt, was Pires eine erneute Verhinderung der Reise bescherte und unserem Fahrdienstleiter Uwe Pape eine spontane Nacht im Hamburger Hotel ermöglichte. Das Frühstück soll gut gewesen sein. Mit reichlich Verspätung also ging die Vorbereitung am Dienstag los, doch Pires und Grigoryan haben einige Konzerte in dieser Konstellation gespielt und kennen sich seit einigen Jahren.
Pires unterrichtet seit längerem an der Queen Elizabeth Music Chapel, wo junge Musiker abseits der harten Wettbewerbs-Maschinerie unterrichtet und beraten werden. Auch bei der Auswahl ihrer Schüler bleibt Pires idealistisch und kompromisslos. Bei youtube gibt es eine längere Dokumentation über die Music Chapel, in der ein Schüler (Julien Libeer) erklärt, dass pianistische Technik, Virtuosität und Affektiertheit keine Maßstäbe seien, es zähle eben der ganze Mensch und seine Einstellung zum Leben (und er wirkt dabei irgendwie trotzdem affektiert, aber das ist nur mein Eindruck).
Zu Lilit Grigoryan wurde in diesem Blog schon viel geschrieben. Es passt gut, dass sie in diesem Jahr spontan zweimal in Ostfriesland spielt. Nicht nur auf dem aktuellen Cover ist sie eines der Gesichter des Festivals. Sie in Begleitung ihrer großen Mentorin aus der Music Chapel zu erleben, ist etwas Besonderes. Gemeinsam eröffnen sie den Abend mit Schuberts vierhändigem Allegro a-Moll und schließen ihn auch gemeinsam mit Kurtags „Hommage an Schumann“. Daneben kommt nur Beethoven. Aber was heißt „nur“. Pires beendet den ersten Teil mit Beethovens „Sturm“-Sonate und der Applaus brandet durch die Kirche und ihre hellhörige Akustik, die zwar jede Schattierung der Töne, aber auch jeden kleinen Huster abbildet. Spielt Pires, sitzt Grigoryan neben der Bühne und hört zu, anders herum genauso. Wieso auch im Hinterraum verstecken, wenn es diese Musik zu hören gilt? Es wirkt so natürlich und sinnvoll. Im Zentrum steht die Musik und die geht eben alle etwas an. Lilit spielt die Sonate Nr. 28 und hier findet der Jubel kaum eine Grenze, die am Ende des Konzertes endgültig gesprengt wird. Lilit Grigoryan findet die Tiefe des Ausdrucks und man beobachtet, wie sie ihn sucht und findet. Bei Maria João Pires wirkt es, als führe sie einen langen Dialog mit der Musik, bei dem sie viel mehr am Gegenüber als an sich interessiert ist. Dass sie dabei eine Anschlagskunst entwickelt, die die ZEIT mal mit „Nie sentimental. Immer brennend“ beschrieb, ist unser Glück.
Am Ende die Arietta in der letzten Beethoven Sonate. Ob noch jemand im Publikum die Interpretation von Alfred Brendel aus dem letzten Jahr im Kopf hatte? Beinahe bricht der Jazz in die Sonate ein, und Pires lässt die Musik klingen, wie es die wenigsten Protagonisten der Klavierwelt können: poetisch, natürlich, schwebend, ohne Pose und Kostüm.
Ob mit dem Konzert in Emden tatsächlich der absolute pianistische Gipfel der Gezeitenkonzerte erreicht worden ist, wie es die Presse zum Teil schreibt, sollte jeder für sich entscheiden. Ich denke nur an Herrn Sokolov, Lars Vogt, Matthias Kirschnereit und so viele andere Pianisten, die bislang die Gezeitenkonzerte beseelt haben.
Nachdem alle Besucher die Kirche verlassen hatten, setzte sich Frau Pires noch einmal an den Flügel. Im ersten Teil hatte eine Sirene die Aufnahme von NDR Kultur, Kulturpartner des Festivals, gestört, und sie spielte den Satz neu ein. Wir melden uns, wenn der Sendetermin feststeht und freuen uns jetzt schon auf die Ausstrahlung. Ich jedenfalls werde das Radio umarmen.