Schon vorhanden, aber unbekannt
Die Entdeckung von Schuberts „Großer“ C-Dur-Sinfonie (Nr. 8 / D 944) stelle ich mir sehr aufregend vor: Robert Schumann besucht im Winter 1838 in Wien das Grab des vor zehn Jahren verstorbenen Franz Schubert, sucht dann quasi spontan den Bruder Ferdinand auf, lässt sich bei dieser Gelegenheit dessen Autographensammlung zeigen – und staunt nicht schlecht, als er dabei eine komplette Sinfoniepartitur findet! Er schickt die Noten nach Leipzig, und schon im Frühjahr 1839 leitet Felix Mendelssohn Bartholdy die Uraufführung des Meisterwerkes in einem Gewandhauskonzert.
Nicht immer sind musikalischen Entdeckungen derart spektakulär, heute noch weniger als früher. Aber zu suchen und zu finden gibt es einiges! Drei unwillkürliche Beispiele: Kennen Sie den Engländer Frank Bridge (1879-1941)? Was sagt Ihnen der russische Komponist Mieczysław Weinberg (1919-1996)? Haben Sie schon einmal etwas vom Prager Erwin Schulhoff (1894-1942) gehört?
Die Liste könnte freilich endlos verlängert werden – bleiben wir aber bei diesen drei Namen, und machen wir Sie neugierig: Bridge, Lehrer von Benjamin Britten, schrieb vorwiegend Orchester- und Kammermusik, spätromantisch bis zwölftönig, und dirigierte manche der berühmten Londoner „Proms“-Konzerte. Weinberg, jüdisch-polnischer Abstammung, floh im Zweiten Weltkrieg vor den Deutschen aus Warschau nach Russland, wo ihn Dmitri Schostakowitsch förderte. Sieben Opern, 22 Sinfonien, 17 Streichquartette – alles originell und von hoher Qualität: Wieso ist der Mann nicht längst viel berühmter? [„Googeln“ Sie unbedingt mal nach dessen Oper „Die Passagierin“!] Schulhoff, der sich auch für die Werke eines Alban Berg einsetzte, schrieb acht Sinfonien, zwei Opern, fünf Streichquartette und manches andere. Sein Verdienst ist die Einbindung des Jazz in die europäische Kunstmusik; er starb während des Zweiten Weltkrieges in nationalsozialistischer Gefangenschaft.
Noch fünf Monate, dann beginnt endlich die zweite Runde der Gezeitenkonzerte unter dem Motto „Entdeckungen“. Und vielleicht erklingt dann Musik, die man gut finden kann, auch wenn man sie nicht sucht: Schon vorhanden, aber unbekannt!
Ulf Brenken