Wenn das Wort „Scheiße“ bewundernd klingt

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Raphael Paratore mit den Schülermanagerinnen der Klassen 10 a und 10 b der IGS Marienhafe. Sorry, Jungs: Ihr wart nicht da!
Raphael Paratore mit den Schülermanagerinnen der Klassen 10 a und 10 b der IGS Marienhafe. Sorry, Jungs: Ihr wart nicht da!

Das zweite TONALiA-Konzert in der IGS Marienhafe
Raphael Paratore, der bei seinem Auftritt auf die Bühne gleich zu seinem jungen Publikum sagte: „Ihr könnt auch Raphi zu mir sagen!“, war gestern Vormittag der zweite junge TONALi-Musiker, der ebenso wie Philipp Wollheim am vergangenen Freitag zu zwei Schulkonzerten nach Ostfriesland eingeladen worden war. Die SchülermanagerInnen der Klassen 10 b und 10 c hatten den jungen, sympathischen Cellisten in die Aula der IGS Marienhafe eingeladen und ihn als „besten Cellisten Deutschlands“ angekündigt. Aufgrund des großen Interesses der Schüler gab es in der Aula mit 234 Plätzen gleich zwei Auftritte.

Intensive Vorbereitungen
Die Mädchen der Gruppe hatten sich Gedanken gemacht, wie sie die Schulaula für den Besuch verschönern können. So haben sie in ihrer Freizeit mehrere TONALi-Schriftzüge und die Buchstaben für Raphis Namen sowie zwei Celli gebastelt, was gleich eine Willkommens-Atmosphäre schaffte.

Nadine Geiß und Stephanie Bley bei der Moderation des zweiten Teils
Nadine Geiß und Stephanie Bley bei der Moderation des zweiten Teils

Nadine Geiß und Stephanie Bley übernahmen beim zweiten Durchgang die Begrüßung von Raphael, bei dem sie sich bedankten, dass er sie für klassische Musik begeistern will. Sie hatten sich gut vorbereitet und einige Details aus seinem Lebenslauf parat. Danach betrat der 23-jährige Cellist das Podium. Bevor er zu seinem Instrument griff, stellte er erst einmal dem Publikum (überwiegend SchülerInnen des 8. und 9. Jahrgangs) ein paar Fragen. Auf die, wer denn schon einmal ein klassisches Konzert besucht habe, meldete sich außer den Erwachsenen niemand. Ein Kandidat wäre Jonas gewesen; der wiederum saß in der Regiezentrale, sodass seine Meldung nicht auffiel. Auf die Frage, wer denn ein Instrument spielt, hoben sich deutlich mehr Hände, die wiederum unten blieben als nach Streichinstrumenten gefragt wurde. Umso wichtiger war es Raphi, sein Instrument und seine Musik vorzustellen.

Musik Part I

Raphael Paratore, Foto: Karlheinz Krämer
Raphael Paratore, Foto: Karlheinz Krämer

Er begann mit einem Stück von Joseph Marie Clément Dall’Abaco, Hofcellist am Kurfürstlichen Bonner Hof und späterer Kammermusikdirektor. Dieser Komponist wurde 95 Jahre alt (geb. 1710 in Brüssel) und schuf insgesamt 35 Cello-Sonaten. Als Vergleich führte Raphi an, dass seine Zeitgenossen (Barockeund Klassische Periode) wie Beethoven nur fünf und Mozart und viele andere keine einzige Sonate für Cello geschrieben hätten. Gespielt wurde die erste von insgesamt elf Capricen.
Weiter ging es mit Witold Lutoslawski, einem sehr bedeutenden polnischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Die „Sacher-Variationen“ standen auf dem Programm. Paul Sacher war ein Musikmäzen, also ein Förderer, dem zu Ehren Lutoslawski die Buchstaben SACHER (das R wird dabei zum D) in Töne umgesetzt hat. Raphi stellte das gleich mal dar und verglich es mit seinem eigenen Namen, den er zu diesem Zweck mal statt des ph ein f verpasste: Seine Version klang schöner! Das „Sacher-Stück“ war witzig, was auch einige Schüler so empfanden. Hinter mir fiel das Wort „Scheiße“ – und ich habe es noch nie als so positiv besetzt empfunden, klang es doch eher ehrfürchtig und bewundernd.

Raphael hatte bewusst die beiden Stücke gegenübergestellt, ist doch das eine eher traditionell, das andere sehr skurril mit vielen Tremolos (die zitternden, schnellen Töne). Er erklärte, dass hier statt ganzen und halben Tönen Vierteltöne zum Einsatz kommen, was dazu führt, dass es teilweise unsauber klingt, was aber vom Komponisten durchaus so gewollt sei.

TONALiA-Schulkonzert in der verschönerten Aula der IGS Marienhafe mit Raphael Paratore, Foto: Karlheinz Krämer
TONALiA-Schulkonzert in der verschönerten Aula der IGS Marienhafe mit Raphael Paratore, Foto: Karlheinz Krämer

Fragestunde
Danach war Raum für Fragen. „Komponierst Du auch selber?“, wollte ein Schüler wissen. Raphi habe es versucht, aber gemerkt, dass er nicht so erfolgreich wie als Musiker ist. Für ihn gilt eher der Grundsatz „entweder Künstler oder Komponist“. „Kennen Sie Apocalyptica?“ Natürlich kennt man als junger Cellist auch diese Band und manchmal macht es Spaß, in der Gruppe (alleine klingt’s nicht) sich auch an solche Stücke heranzuwagen – allerdings eher „just for fun“. Auf die Frage, wie oft er denn übe, antwortete Raphi, dass es unterschiedlich sei, aber schon so fünf Stunden am Tag erforderlich seien, was ein entsetztes Aufstöhnen der SchülerInnen zur Folge hatte. Durch das lange Üben hat man als Cellist viel Hornhaut, da man ständig Druck auf die Stahlsaiten zu bringen, viel Hornhaut. Das führe zwar nicht zu schönen Händen, aber erhöht die Spielfähigkeit. Gerade die Daumenlage – sie kommt in dem Bereich zum Einsatz, wo der Steg in den Körper des Instrumentes übergeht – verlange dem Künstler doch einiges ab und zu Beginn sei es einfach nur schmerzhaft, sie zu spielen. Auf die Frage nach Vorbildern gab Raphi Mstislaw Rostropowitsch, einen russischen Cellisten und Komponisten, an, der seiner Meinung nach ein „unglaubliches Tier“ mit einer wahnsinnigen Energie gewesen sei, dem es sehr wichtig war, die Musik zum Leben zu erwecken. Im Anschluss wurde er aufgefordert, mal ´was Schnelles zu spielen. Raphi spielte ein paar Tremoli an und fragte dann, ob David Garrett bekannt sei. Er könne auf seiner Geige sehr viel schneller spielen als jemand auf dem Cello, wenn es denn darum ginge, etwas unbedingt auf die Schnelligkeit zu reduzieren.
Danach erklärte Raphi, dass er eigentlich ursprünglich Geige spielen wollte. Dann jedoch wollte seine ältere Schwester es ihrem Bruder gleich tun und folgte ihm zum Geigenunterricht, was Raphi doof fand. Also beschloss er kurzerhand, das Instrument zu wechseln und fing mit vier Jahren an, Cello zu spielen. Heute ist er seiner Schwester sehr dankbar. Sein Vater ist Konzertpianist, sodass es nahe lag, dass beide Kinder ein Instrument spielen lernen sollten.
„Hast Du eigentlich nur ein Cello?“, war die nächste Frage aus dem Publikum. Er sei sehr glücklich, dass er mit diesem Cello, das er seit etwa einem dreiviertel Jahr spielt, quasi seine Stimme gefunden habe, erklärte Raphi. Das Instrument von 1820 ist sein zweites vollwertiges Cello (vorher gab es die „Kindervarianten“). Die Preise für Celli und Geigen, gerne die alten italienischen Instrumente, seien seiner Meinung nach ziemlich absurd.

Musik Part II

Und Action: Raphael Paratore am Cello, Foto: Karlheinz Krämer
Und Action: Raphael Paratore am Cello, Foto: Karlheinz Krämer

Johann Sebastian Bach, vielen bekannt und auch zahlreichen Komponisten Inspirationsquelle, hat sechs mittlerweile sehr berühmte Cello-Suiten geschrieben. Lange Zeit wurden diese kaum gespielt. Pablo Casals, weltberühmter Cellist und Komponist, hat sie in einem Antiquariat wiederentdeckt und zehn Jahre lang geübt, bevor er sie erstmalig aufgeführt hat: Was für ein Respekt vor diesem Werk.
Was 98% der Anwesenden nicht wussten: Die Bach-Suiten bestehen alle aus sechs Sätzen: Prelude – Allemande – Courante – Sarabande – Gavotte / manchmal auch Bourrée – Gigue, allesamt Tänze, von denen Raphael die Allemande, den deutschen Tanz, spielte und prophezeite, dass man aufgrund dieses Werkes gleich Bilder von Menschen mit Kostümen und Perücken beim Tanz vor sich habe.

Langsam wurden einige der SchülerInnen doch unruhig und es wurde etwas lauter, aber als Raphi ankündigte, dass er zum letzten Stück käme, kehrte die Aufmerksamkeit doch noch einmal zurück, vor allem, weil er sich ein schönes spanisches Werk zum Abschluss ausgesucht hatte. Gaspard Cassadó aus Barcelona, der Lieblingsschüler von Pablo Casals, Cellist und auch Komponist, der weltweit konzertiert hat. Aus dessen Suite spielte er den 3. Satz, in dem das spanische Temperament durchkam – ein sehr rhythmisches und stimmungsvolles Stück, bei dem er das Cello sowohl als Gitarre nutzte als auch mehrere Saiten gleichzeitig zum Klingen brachte, sodass der Bogen, bespannt mit kanadischem Pferdehaar, bereits einige Federn ließ.

Raphael hat es in Marienhafe sehr gut gefallen: „Ich finde Euch super!“, waren seine Worte an das Publikum. Dem können wir uns nur anschließen! Bei einigen der Schüler war deutlich zu merken, dass es ihnen Spaß gemacht hat und den Erstkontakt zur klassischen Musik – natürlich dank Raphael – spannend fanden. So gab es im Anschluss viele Autogrammwünsche und Gesprächsbedarf am extra bereit gestellten Tisch.

Autogrammstunde mit Raphi, Foto: Karlheinz Krämer
Autogrammstunde mit Raphi, Foto: Karlheinz Krämer

Die Gezeitenkonzerte der Ostfriesischen Landschaft bedanken uns bei Raphael Paratore, allen SchülermanagerInnen, der IGS Marienhafe mit ihren engagierten Lehrern, TONALi, der PwC-Stiftung und dem Ehepaar Wohlberg, das Raphael aufgenommen hat, obwohl keins der Kinder zu den SchülermanagerInnen gehörte.

Im Anschluss gab es sogar noch ein Nachgespräch, was wir nicht eingeplant hatten, aber gut fanden. Schulleiter Ewald Jüchems, Musikobmann Bodo Florian und unser Ansprechpartner, Musiklehrer Dieter Weiß, sowie vom Schülermanager-Team Anke Grünebast, Imke Davids und Jonas Theessen gemeinsam mit Dirk Lübben, Raphael Paratore und mir dabei. Es gibt noch Verbesserungsmöglichkeiten und Ergänzungsvorschläge, die sich alle bei einem nächsten Durchgang 2016 umsetzen ließen. Die IGS Marienhafe freut sich über solche Projekte und wäre gerne wieder dabei. Und bei den Erfahrungen, die wir mit dem tollen Team bei unserem Pilotprojekt gesammelt haben, sagen wir ebenfalls: „Gerne wieder!“

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