Der Komet zieht weiter. Elisabeth Leonskaja, für manche die bedeutendste Pianistin unserer Zeit, „Löwin der Tasten“, Wahl-Wienerin, Solistin mit Richter, Karajan etc. spielt in Reepsholt. Wo?!
Reepsholt liegt bei Friedeburg, gehört zur Gemeinde Wittmund und immerhin 800 Einwohner. Ich musste auch googlen. Das Island unter den Gezeitenspielorten, denn die Kirche war mit rund 300 Personen rappelvoll. Auch die extrem steile Treppe wurde von allen souverän bewältigt, außer von mir. Aber wer braucht schon Lendenwirbel…
Doch nun zum Wesentlichen. Nach der obligatorischen Begrüßung durch Landschaftspräsident Rico Mecklenburg und den Hausherren, Pastor Neese, betrat Elisabeth Leonskaja durch den langgezogenen Kirchengang die Bühne. Los ging es mit Schuberts f-Moll Sonate und dem eingefügten Adagio in Des-Dur, D 505. Eigentlich ist die Sonate ohne einen langsamen Satz komponiert worden, doch dieses Adagio scheint dazuzugehören.
Elisabeth Leonskaja bestach durch ihr unaufgeregtes und sachliches, aber dennoch hochvirtuoses Spiel. Besser kann man es nicht machen. Obwohl ich in der letzten Reihe ganz hinten in der Ecke saß und der Ton durch die Empore etwas gedämpft wurde, hatte ich durchweg Gänsehaut. Viel mehr Worte sollte man dazu nicht machen, einfach ein perfekter Vortrag. Gleiches gilt eigentlich auch für die folgende Wandererfantasie von Schubert in C-Dur. Der große Romantiker brach für dieses Klavierwerk die Arbeit an seiner siebten (oder achten, je nach Zählung) Symphonie ab, die wir heute unter dem Beinamen „die Unvollendete“ kennen. Würde sich ja mal lohnen, eine Orchesterbearbeitung davon zu schreiben, wäre ja spannend, beide Werke zusammen aufzuführen. Komponist müsste man sein…
Auch hier beeindruckte Elisabeth Leonskaja durch ihr kraftvolles Spiel im Allegro oder Presto und zeitgleich durch ihre Feinfühligkeit in den langsamen Teilen. Mich hielt das Stück immer zum Narren, denn es kommen haufenweise Schlusskadenzen vor. Man erwartet die Tonika, aber es geht mit einem Trugschluss oder einem neuen Themeneinsatz weiter. Genial gemacht. Schneller als gedacht war die Pause da. Kalt war es geworden, ich hatte natürlich keine Jacke mit. Zum frieren war aber gar keine Zeit, denn unser CD-Stand erfuhr einen ungeahnten und ungekannten Ansturm. Offensichtlich war nicht nur ich von der Darbietung begeistert. Am Ende des Tages hatten wir sogar alle limited-edition Tonträger mit zusätzlichem Videomaterial und Buch für immerhin 45 € das Stück verkauft. Nach einem hastig genossenen Stück Brot am Ende der Unterbrechung ging es mit einem etwas aus dem Rahmen fallenden Stück weiter: Elf Humoresken von Widmann. Schon die Satzbezeichnungen lassen aufhorchen: Wo man sonst Allegro molto oder Andante findet, standen hier Angaben wie fast zu ernst, zerrinnendes Bild oder auch Warum?
So ganz konnte ich diese Musik nicht verstehen. Im Kopf hatte ich immer Bilder, die aber partout nicht zu den Satzbezeichnungen passen wollten. Es klangen vor allem Septimen und Sekunden, also Intervalle, die sich sehr aneinander reiben und für unser nach Konsonanz strebendes Ohr schräg klingen. Trotzdem passte es hier irgendwie. Musik muss nicht immer zum Träumen schön sein, sie darf und soll auch zum Nachdenken anregen. Das hat Widmann auf jeden Fall geschafft.
Aber auch Anhänger der traumhaft schönen Klänge sollten auf ihre Kosten kommen, denn sie wurden zum Abschluss des Konzerts mit Brahms` Sieben Fantasien für Klavier belohnt. Romantische Klaviermusik pur. Mir fiel vor allem das Intermezzo Nr. 5 auf, an dessen Stelle formal eigentlich ein Capriccio gehört. Eingerahmt wurden die eher langsamen und getragenen Intermezzi von zwei Capriccios in d-Moll. Ein Zyklus, das Werk beginnt und endet in derselben Tonart. Nach einer kurzen und bedeutsamen Stille donnerte Applaus und Fußgetrampel durch die St.-Mauritius-Kirche. Innerhalb einer halben Minute stand die ganze Kirche. Elisabeth Leonskaja verbeugte sich mehrfach und ging zweimal ab. Ich hatte die Möglichkeit, ihr noch ein Dankespräsent der Gezeitenkonzerte zu überreichen, ein ganz besonderer Moment für mich. Natürlich spielte sie noch eine Zugabe, die für mich verdächtig nach Schubert klang. Aber da möchte ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Vielleicht ist ja der eine oder andere Kenner unter Ihnen? Am Ende des Tages fühlte ich irgendwie dafür entschädigt, Sokolov im letzten Jahr verpasst zu haben.