Sokolov in Leer.
Machen Sie ruhig eine Pause. Gehen Sie durchs Haus, schlagen die Lokalzeitung auf, trinken Sie einen Tee und lassen diesen Satz noch einmal nachwirken.
Sokolov in Leer. Darauf haben wir seit zwei Jahren gewartet. Damals kündigte Matthias Kirschnereit diese haarsträubende Idee an, einen der besten Pianisten der Welt zu den Gezeitenkonzerten einzuladen. Im letzten Jahr kamen Termine dazwischen, jetzt hat es endlich geklappt.
Sokolov in Leer. Das heißt: ausverkauftes Theater an der Blinke mit 735 Gästen. Wer an diesem Freitag an großer Kunst und klassischer Musik interessiert ist, hat in Leer zu sein. Alles andere ist Blasphemie und nicht ernst zu nehmen.
Sokolov in Leer. Was das Programm angeht, lässt sich auch sagen: Sokolov in Berlin, Hamburg, München und so weiter. Wie seit zehn Jahren gilt bei ihm: ein Programm für eine Saison. Heißt: jeden zweiten Abend Bach, Beethoven, Schubert. Jeden zweiten Abend ein ausverkauftes Haus, ein schneller Gang zum Flügel, zweieinhalb Stunden Klavierkunst, Zugaben, ein völlig ausflippendes Publikum. Kurze Verbeugung und schnell wieder hinter die Bühne verschwinden.
Was macht ihn so besonders? Hunderte große Pianisten haben Bach, Beethoven und Schubert gespielt und diese Stücke geprägt. Richter, Barenboim, Rubinstein, Fischer, Gulda, Brendel und so weiter. Während diese Pianisten die CD-Regale mit sämtlichen Einspielungen füllen, verweigert sich Sokolov der Schallplatte und dem Studio. Dass er kürzlich doch einen Vertrag mit der Deutschen Grammophon abgeschlossen hat, ist ein gutes Zeichen für die Hörer. Er ist ein Einzelgänger, ein Musiker mit seiner eigenen Schrulligkeit und mühsam erarbeiteten Privilegien. Doch das haben und hatten die anderen auch. Es ist also die Musik und das Spiel. Sokolovs Spiel regt zu phantasievollen Vergleichen an und sucht Superlative der Sprache. Vom „Schlüpfen des Schmetterlings“ (FAZ) bis zum „Zauberer“ (Spiegel) ist da zu lesen. Doch all das bleibt Poesie auf dem Papier und gibt kaum wieder, was so unmittelbar dem Gehör, Gehirn und Herzen geboten wird. Man kann sich seinem Spiel nicht entziehen, weil es auch jeden ungeübten Hörer mit seinem Detailreichtum sofort anspricht. In Leer ist es für mich vor allem der erste Teil mit Bach und Beethoven, insbesondere das Largo e mesto aus der siebten Klaviersonate, das langsam und abgründig die Stille dämmrig durchleuchtet.
Sokolov wird als Anti-Exzentriker gefeiert. In gewisser Weise stimmt das. Verfolgt man die jungen Musikergenerationen, wie sie bei Facebook alle zwei Tage Videos und Fotos von sich posten, ist ein stiller, in sich und seine Kunst gekehrter weiser Mann einem sehr viel näher. Und doch zelebriert auch Sokolov seine Konzerte. Kaum eine Kritik, die nicht auf seinen schnellen Gang zum Flügel eingeht, seinen mürrischen Gesichtsausdruck deutet und das gedämmte Licht, das die Konzerthalle zur Höhle macht, erwähnt. Gleiches gilt auch für seine Zugaben. Mindestens fünf. Wer ihn kennt, weiß, was zu erwarten ist. Alle anderen sind zunächst verwundert. Warum eine halbe Stunde Zugaben nach so einem Pflichtprogramm? Weil er es kann. Dass er trotzdem den Saal leerspielt, ist leider der unschöne Nebeneffekt, weil eben doch viele Zuhörer irgendwann aufstehen. Nur wann hat man schon in Ostfriesland die Möglichkeit, einen Pianisten dieser Klasse zu erleben? Vielen gebührt Dank für dieses Konzert, vor allem dem Förderer „Frisia Möbelteile“ und nicht zuletzt die Kooperation mit dem Verein junger Kaufleute Leer ermöglichte diesen Abend, der wohl noch Jahre nachwirken mag. Zu den weiteren Umständen des Konzertes kann ich wenig sagen, war ich doch auch nur Gast. Wie war die Zusammenarbeit mit dem Theater an der Blinke, wie war die Vorbereitung des Konzertes, was hat Sokolov nach dem Konzert gegessen? Fragen Sie Wibke Heß beim nächsten Gezeitenkonzert.
Ich war nur ein kleiner glücklicher Zuhörer. Sokolov in Leer. Das heißt auch: Unerträgliche Wärme im Zugabenteil, man ist eigentlich völlig erschöpft angesichts der Fülle der musikalischen Gedanken und will doch jede Sekunde aufnehmen, aufbewahren und konservieren. Sokolov in Leer. „Er seziert nicht, er doziert nicht. Er legt keine Bekenntnisse ab und erklärt keine Witze. Er entfaltet vielmehr etwas zu vollem Leben – nicht nur vor uns, sondern auch in uns“, schrieb Jan Brachmann in der FAZ (27.4.) über das aktuelle Programm von Sokolov. Brechen wir es platt runter und zwar auf Platt, heißt Sokolov in Leer auch: Heel wat besünners!