Am Sonntag waren um 11 Uhr auf NDR Kultur zwei Gezeitenkonzerte des vergangenen Festivals zu hören. Lilit Grigoryan war einmal mit Anna Vinnitskaya und einmal mit ihrer Mentorin Maria João Pires zu hören. Doch warum zwei Konzerte? Maria João Pires war zum ursprünglichen Konzerttermin erkrankt, für sie sprang Anna Vinnitskaya spontan ein. Doch auch dieses Konzert konnte wegen einer Autopanne fast nicht stattfinden. Diese Geschichte, im Radio so locker erzählt, treibt einigen Kollegen heute noch den Schweiß auf die Stirn. Doch zurück zum Konzert aus der Neuen Kirche.
Zunächst brachte Anna Vinnitskaya die „Kinderszenen“ von Schumann zu Gehör. Besonders beeindruckt hat mich der Ausdruck der Pianistin, sofort hatte ich bei jedem Stück Bilder vor Augen. Dieser Vortrag erscheint noch unglaublicher, wenn man bedenkt, dass sie spontan – erst am Vortag gefragt – für Maria João Pires eingesprungen ist. Eine solche Nervenstärke muss man erst einmal haben. Wir Amateure bereiten uns manchmal über ein halbes Jahr auf solche Auftritte vor. Im Interview sagt sie sogar, dass ihr die spontanen Konzerte eigentlich doch die liebsten seien. Im Vorfeld hatte sie gerade mal 30 Minuten Zeit, die Akustik in einem vollkommen unbekannten Raum auf einem unbekannten Flügel zu testen. Auch wenn viele Instrumente gleich aussehen, lässt sich jedes auf seine eigene Weise bespielen.
Als zweites trugen Maria João Pires und Lilit Grigoryan das Klavierstück „Lebensstürme“ für vier Hände von Franz Schubert in a-moll vor. Auch hier kam die Musik zwar nur aus der Konserve, aber ich fühlte mich unweigerlich an ein anderes Schubert-Lied erinnert: An die Musik. Dort heißt es „Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden, wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt, hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden, hast mich in eine bessere Welt entrückt!“. Diese Zeilen bringen den Kerngedanken der musikalischen Romantik ziemlich gut auf den Punkt. Und auch bei mir stellte sich dieses Gefühl beim Hören dieser zeitlosen Musik ein, denn beide Pianistinnen trugen das Werk zwar sehr präzise, aber auch mit großer Leidenschaft und Spielfreude vor, sodass die Schönheit des langsameren Teils besonders zum Ausdruck kam.
Gefolgt wurde die „Lebensstürme“ von Beethovens „Sturmsonate“. Muss windig gewesen sein an dem Tag. Interpretiert wurde dieses klassische Werk von Lilit Grigoryan. Im Interview gab sie zu, dass es für sie schon eine große Herausforderung sei, nach ihrer Ausbilderin Maria João Pires zu spielen, die zuvor auch eine Beethoven-Sonate vorgetragen hatte. Doch irgendwie könne sie sich in ihrer Anwesenheit auch auf das Wesentliche beim Musizieren konzentrieren: Seine eigene Botschaft rüberzubringen. Dinge wie Druck oder Nervosität würden auf einmal nebensächlich. Sie muss mir unbedingt ihren Trick verraten!
Ihr Ziel hat die junge Pianistin jedenfalls erreicht. Sie präsentierte ein umfassendes Portrait des Komponisten. Viele Menschen verbinden mit Beethoven hauptsächlich „ta-ta-ta-taaaa“ und den jähzornigen Sturkopf. Sicher sind das zutreffende Eigenschaften. Grigoryan zeigt mit ihrer Interpretation der Sonate jedoch auch die lyrische Seite des letzten Klassikers. Zumindest im Alter muss diese sich immer mehr hervorgetan haben, denn diese Sonate und auch späte Werke wie die Chorfantasie oder die berühmte 9. Symphonie sind alles andere als aggressiv.
Den Abschluss dieses rundum gelungenen Sonntagskonzerts bilden acht Klavierstücke von Johannes Brahms, op. 76. Es spielte wieder Anna Vinnitskaya. Dieses selten gehörte Werk wurde auch von ihr meisterhaft vorgetragen. Es beginnt in der für Instrumentalisten durchaus nicht ganz so einfachen Tonart fis-Moll und besteht aus vier Intermezzi und vier Capriccios. Dieses nach Meinung der Solistin viel zu wenig aufgeführte Klavierstück wurden vom jungen Brahms geschrieben, der noch nicht ganz „er selbst“ war, sondern noch von Robert Schumann beeinflusst wurde. Dieser bezeichnete Brahms in seinem Aufsatz „Neue Bahnen“ als „Berufenen“, und damit sollte er recht behalten. Welches Stück könnte besser in die Gezeitenkonzerte 2015 passen?!
Als Zugabe (auch noch!!) spielte Anna Vinnitskaya ein russisches Stück, zu dem sie sich besonders verbunden fühlte. Zum Abschluss dieses einmaligen Sonntagskonzertes habe ich mich wirklich geärgert, dass ich nicht selbst dabei gewesen bin. Obwohl ich außer der Sturmsonate und den Kinderszenen keins der Stücke kannte, war ich begeistert von der Musik aus dem Radio. Wie muss es wohl live gewesen sein?!
Falls der eine oder andere von Ihnen und Euch jetzt Lust bekommen hat, das Konzert anzuhören, finden Sie es in der Mediathek unseres Kulturpartners NDR Kultur.