Länger hab ich nichts von mir hören lassen. Der Grund ist, dass ich in der letzten Woche das Abschlussseminar meines Freiwilligendienstes besucht habe. Mein Träger, die LKJ Niedersachsen, ermöglicht mehrfach im Jahr Wochen, in denen sich alle Freiwilligen treffen und gemeinsam kreativ werden können. Bei mir stand in der vergangenen Woche unter anderem Gesang bei der wunderbaren Anne Heeg, eine Begegnung mit ZEIT-Kolumnistin und Autorin Greta Taubert, Tanz und die wichtige Frage über die Zukunft unserer Gesellschaft auf dem Programm. Der endgültige Abschied von vielen Mitstreitern und Mitstreiterinnen fiel mir schon schwer. Deswegen fuhr ich gestern Abend auch ein wenig verstimmt nach Leer, wo die Arbeit rief. Zu tun war nicht mehr viel, doch nicht nur deswegen wurde ich immer fröhlicher: Ich war in meiner absoluten Lieblingskirche, in der ich selbst schon oft musiziert habe und wir hatten eins meiner Lieblingsensembles (zumindest für das ältere Fach) in Leer zu Gast. Win-win.
Der Abend stand ganz im Geiste von Mozarts Italien-Reise von 1769-1771. Mozart ist Jahrgang 1756, also bekamen wir Werke eines Teenies zu hören. Als ich noch mit der Blockflöte die Nachbarschaft tyrannisierte, schrieb der schon Symphonien und Opern. Dirigent Frank Beermann übernahm an diesem Abend zudem die Rolle des Moderators. Im Verlauf des Abends sagte er, er wolle am „Marzipan-und-rote-Backen-Image“ des Wunderkinds kratzen, da war ich sofort auf seiner Seite.
Los ging es mit der Symphonie in G-Dur, KV74, die nur aus zwei Sätzen bestand. Bei dem Stück habe Mozart wahrscheinlich keine Lust gehabt, so Frank Beermann. G-Dur als Anfangsakkord, Quinte rauf, Quinte runter, nochmal Tonika.
Die Akademie für Alte Musik Berlin (Akamus) spielte mit dem bekannten Drive. Schnell, witzig, dynamisch einmalig. So bekommt Mozart seinen eigenen Charme. Puristen werden hier einwenden, dass diese Art der Interpretation historisch unmöglich ist. Die Instrumente waren früher anders besaitet, diese Schnelligkeit passt nicht in die frühklassische Welt, wo das Leben viel langsamer war als heute. Faktisch kann man da wenig gegen einwenden. Doch im Konzertsaal klingt es einfach schön. Ist das nicht das Ziel? Und ist es nicht gerade die Kunst, Musik zeitlos zu machen?
Anschließend kam das Spannendste für mich, der Gesang. Es ist immer toll, Profis bei der Arbeit zu sehen. Julia Bauer singt leichtfüßig und völlig unangestrengt. Die erste Arie, „Non curo l´affetto“ klang nach enttäuschter Liebe. Die Begleitung war ausgewogen, der Sopran war voll und abwechslungsreich. So muss Mozart klingen. Julia Bauer setzte wunderschöne piani, eine technische Meisterleistung in einer Höhe, die viele nur schreien können. Das Publikum wurde sehr mit einbezogen, ich fühlte mich ständig angesungen. Bei so schöner Musik vergisst man doch glatt, dass man nur vier Stunden geschlafen hat.
Es folgte eine weitere Symphonie, diesmal in F-Dur, diesmal auch vier ganze Sätze. Im dritten Satz konnten wir den Konzertmeister, den Solo-Bratscher und die Stimmführerin der zweiten Geigen im Trio bewundern. Auch das Molto Allegro zum Abschluss kam furios und virtuos daher. Trotzdem möchte ich eine einzige Kritik anbringen: Am Abend wurden vier Symphonien gespielt, alle in Dur, jede einzelne schön. Doch irgendwie ähnelten sie sich alle. Mozart war öfter in Italien, da wird doch mal eine traurige Symphonie entstanden sein. Ich habe selbst Einspielungen der großen Bach-Werke wie Matthäus- oder Johannespassion der Akamus in meinem Spotify. Wenn einer ergreifen kann, dann die.
Für ein wenig Kontrast sorgte das folgende Rezitativ „A Berenice“ und die dazugehörige Arie „Sol nascente“. Während das Rezitativ stellenweise etwas düster und abwartend klang, ließ die Arie wortwörtlich die Sonne aufgehen. Im Laufe der Arie stieg sie immer höher und fand ihre ganze Strahlkraft auf einem irre hohen A zum Ende. Begeistert ging es zur Pause, die dank meiner sehr netten Gesellschaft in gefühlten 3 statt 30 Minuten zu Ende war. Den Auftakt zur zweiten Hälfte machte die Symphonie 44 in A. 44?! Der Kenner weiß, dass Mozarts letzte Symphonie mit dem Beinamen „Jupiter“ (warum auch immer) die Nummer 41 trägt. Die bei den Gezeiten haben ja nun echt keine Ahnung…
Tatsächlich wurde diese Symphonie bis in die 1970er dem Vater Leopold Mozart fälschlicherweise zugeordnet. Die falsche Opuszahl wird sich da irgendwie mit durchgemogelt haben. Ein toller Einstieg nach der Pause, das Mozart-Gefühl war sofort wieder da.
Der Höhepunkt des Abends kam aber danach. Rezitativ „Popoli di Tessaglia“ und „Io non chiedo, eterni dei“ für Sopran. Das geht etwas höher als die Königin der Nacht. Genau wie Männer ab einer gewissen Höhe im Falsett singen, beginnt bei Frauen irgendwann das Pfeifenregister an. Ein schöner Begriff fürs Quietschen. Das wird als Gesang durchaus anerkannt, ist aber für die Opernbühne nicht so tauglich. Wenn es kommt, kommt es einfach und man kann da auch nichts gegen machen. Das Gelingen der Arie ist also durchaus tagesformabhängig. Ich sage nur: Standig Ovations. Dazu beigetragen haben auch die beiden weiteren Solisten an Oboe und Fagott mit meisterlichem Spiel und sehr rücksichtsvoller Begleitung. Ich saß zufällig neben dem Leiter der Kreismusikschule in Leer, der ziemlich beeindruckt schaute. Er als Fagottlehrer muss es ja wissen.
Abgerundet wurde das Konzert durch die Symphonie Nr. 15 in G-Dur. So schließt sich der Kreis. Als Zugabe wurde noch ein Satz von Haydn gespielt, aber eigentlich muss ich dazu nicht mehr viel sagen. Als ich abends diesmal recht zeitig zuhause war, sah ich zufällig im Fernsehen noch einen Ausschnitt mit Nicolaus Harnoncourt. „Mozart kann man nur unterschätzen. Wir reichen alle nicht an ihn ran; keiner kann die Genialität seiner Musik ganz erfassen“. Nach meinem bisher schönsten Gezeiten-Abend war mir auch klar, warum.