Anmerkung der Initiatorin des Gezeitenblogs: Ja, es gibt in diesem Jahr zwei Beiträge zum Gezeitenkonzert mit Christian Tetzlaff und ich freue mich über beide, da mir die Meinungen unseres Programmheftautors und unserer Geige spielenden Auszubildenden sehr wichtig sind und ich der Meinung bin, dass sie das Erlebte schön beschreiben. Viel Freude beim Lesen wünscht Wibke Heß
Christian Tetzlaff spielte am 27. Juli in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden alle Sonaten und Partiten für Violine solo von Johann Sebastian Bach
Zwei einzigartige Ereignisse prägten den 27. Juli 2018: Der Weltklassegeiger Christian Tetzlaff spielte im Rahmen der diesjährigen Gezeitenkonzerte in der Johannes a Lasco Bibliothek, die ich schon 2012 bewundert habe, alle sechs Bach-Solosonaten und -Partiten – und erst an zweiter Stelle kommt die längste totale Mondfinsternis des 21. Jahrhunderts…
Eigentlich wollte ich mir das gar nicht antun – sechs Solo-Geige-Musikstücke an einem Abend, das wird anstrengend. Und dann noch in Emden, das ja von Hamburg aus auch nicht gerade um die Ecke liegt. Bei hochsommerlicher Hitze, die den Asphalt so aufheizt, dass die Temperaturen unerträglich werden. Gegenargumente gab es also genug. Aber als Beifahrer von Bernd hatte ich eines zu wenig.
Wenn der Emder Innenstadt-Italiener ein wenig flotter gekocht hätte, hätten wir vor dem Konzert wahrscheinlich noch ausdauernder staunend das Innere der Kirchenruine besichtigt. So hieß es fast übergangslos: Platz nehmen, Begrüßungsrede hören (Rico Mecklenburg), Auftritt Christian Tetzlaff.
Adagio – Fuga. Allegro – Siciliana – Presto: Die erste Sonate zog mich sofort in den Bann. Ich kann kein bisschen Geige spielen (meine Nachbarn aus grauer Vorzeit ahnen kaum, welches Glück sie hatten, dass Waldhorn eher in Kirchenräumen geübt wird…), und daher stellte ich einfach nur fest: Christian Tetzlaff legte los, als ginge es um mehr als ein Konzertvorspielen. Die erste Fuge hatte mir etwas unsagbar Wichtiges mitzuteilen, was mich sehr erstaunte. Schon hier stellte sich mein Hören auf die ungespielte Mehrstimmigkeit ein, die sich am Gitter der Arpeggioakkorde orientierte.
Allemanda – Double – Courante – Double- Sarabande – Double – Tempo di Borea – Double: Die erste Partita ist ein erstaunlich abwechslungsreiches Suitengebilde, in denen jeder zweite Satz durch eine um virtuose Verzierungen erweitere Wiederholung des vorigen darstellt. Statt mit einer Gigue endet dieses Stück mit einer Bourée (Borea).
Grave – Fuga – Andante – Allegro: Die zweite Sonate, wieder viersätzig, enthält eine faszinierende Fuge, die auch wieder den längsten Satz bildet, aber dennoch hatte ich das Gefühl, er hätte noch etwas länger sein dürfen, denn auch diese „Erzählung“ fesselte mich.
Nach einer Stunde war Pause, die angesichts der weiterhin sommerlichen Temperaturen auch nötig war und dem Catering einen reichlichen Getränkeumsatz beschert haben dürfte – mein Anteil liegt auch in der Kasse. Da als nächstes die berühmte zweite Partita bevorstand, hatte ich etwas Respekt vor der kommenden Musikstunde und dem was sich da noch anschließen würde.
Allemande – Courante – Sarabande – Gigue – Chaconne: Nun war es soweit. Wie schon im Vorjahr (ebenfalls in Emden, aber in der Neuen Kirche) spielte Christian Tetzlaff die zweite Partita (https://gezeitenkonzerte.ostfriesischelandschaft.de/gezeitenblog/christian-tetzlaff-und-leif-ove-andsnes-in-emden/). Schon damals fehlte es mir an Superlativen, um in Worten auszudrücken, was ich hörte. Diesmal ist es, im Rahmen der Komplettaufführung dieser als Zyklus angelegten sechs Solowerke, noch weniger möglich, aber die „Schnittstelle“ Chaconne, das viertelstündige Wunderwerk, bekommt einen anderen Stellenwert, weil es die vier bis hierher dargebotenen Stücke abrundet. Sie stehen alle in (g – h – a – d – ) Moll. Und das Internet hält ehemals unvorstellbare optisch-akustische Beiträge parat: https://www.youtube.com/watch?v=Oa1dcTVk2PU
Adagio – Fuga – Largo – Allegro assai: Eigentlich – eigentlich! – steht die dritte Sonate in C-Dur, der klarsten aller Tonarten, weil ohne Vorzeichen. Das Adagio kann sich jedoch noch nicht zum freundlichen Dur durchringen, sondern sinniert über die soeben verklungene Partita nach. Per Halbschluss geht es in die dritte Fuge über, die nun als zehnminütiger Gegenpol zur Chaconne empfunden werden kann (jedenfalls von mir), was mich total faszinierte. Und mit welcher Musikalität, Logik, Direktheit, ja – Unmissverständlichkeit Christian Tetzlaff diesen Übergang gestaltete, war einfach kaum zu glauben.
Preludio – Loure – Gavotte en Rondeau – Menuett I und II – Bourée – Gigue: Die Einzelsätze der dritten Partita werden nach und nach immer kürzer. Der Abend schließt in unbekümmert erscheinendem E-Dur. „Man muss mit dieser Musik wahrlich nicht vorsichtig oder großartig umgehen, denn es sind alles zutiefst menschliche Äußerungen“, schreibt Christian Tetzlaff in seinem großartigen, persönlichen Vorwort zu seiner dritten (!) Gesamteinspielung der Bachschen Solo-Sonaten und -Partiten. Und so wird man dann auch nach über zwei Stunden purer Kunst aus dem Wasser gezogen mit der musikalischen Aussage: Es geht weiter!
Nie habe ich einen intensiveren Konzertabend erleben dürfen – und es waren seit 1975 schon so einige dabei. Dabei habe ich für stundenlanges solistisches Geigespielen im Prinzip eher wenig übrig und wäre ohne Mitfahrgelegenheit wohl auch gar nicht in Emden erschienen. Aber nun bleibt schlicht Dankbarkeit, Demut und eine ganze Menge Sprachlosigkeit nach diesem elementaren Erlebnis.
Und damit ist nicht die beeindruckende Mondfinsternis gemeint, die wir auf dem Rückweg von Emden über Oldenburg und Bremen nach Hamburg quasi immer direkt vor uns sehen konnten: Der Mond trat langsam aus dem Erdschatten heraus und wurde, als ich nach fast drei Stunden Rückfahrt zu Hause abgesetzt wurde, wieder zur altbekannten große Lampe am Himmel.
Direkt nach dem Konzert, Christian Tetzlaff hatte sich ein saloppes Simpson-Shirt angezogen, bedankten wir uns kurz bei ihm für das musikalische Erlebnis. Nachdem Bernd ihn im Vorjahr nicht nur wie geplant nach Bremen sondern dann ungeplant bis nach Hamburg kutschiert hatte, fragte uns der Solist des Abends: „Wohin fahrt ihr mich denn diesmal?“ Die Frage war völlig falsch gestellt – denn auf seine Reise durch Johann Sebastian Bachs Violinsolo-Kosmos hatte er uns an diesem Abend in Emden mitgenommen.