Christian Tetzlaff spielt alle sechs Sonaten und Partiten für Violine solo in der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden.
Als ich das Programm der diesjährigen Gezeitenkonzerte zum ersten Mal sah, konnte ich meinen Augen nicht trauen. Zunächst fiel mein Blick auf Christian Tetzlaff und ich freute mich, weil er wirklich zu den ganz großen Geigern der heutigen Zeit gehört. Danach streiften meine Augen das Konzertprogramm: 6 Sonaten und Partiten für Violine solo von Johann Sebastian Bach. Ich glaube, es gäbe kein Programm, was mir mehr Respekt einflößen könnte. Durch meine Zeit in der Bachstadt Leipzig, lernte ich Bach richtig kennen und lieben. Bis dato war es so, dass Barockmusik im Generellen mich nicht sonderlich interessiere. Doch als Musikstudentin in Leipzig hat man sozusagen keine Wahl mit Bach in Kontakt zu kommen.
Inzwischen höre ich Bach ungemein gern, nur zum Spielen sind die Stücke mir zu heilig. Wenn man sich das Notenbild anschaut, scheint es, abgesehen von den Doppelgriffen, recht spielbar zu sein. Und von dieser Seite betrachtet, kann jeder, der sein Instrument ein wenig beherrscht, Einzelsätze des Zyklus auch spielen. Doch die hohe Kunst, die dahinter steht, erfordert ein sehr viel tiefergehendes Verständnis dieser Musik.
Christian Tetzlaff hat in seinem Vorwort zu seiner neuen Bach-CD mit den Solosonaten, welches wir wortwörtlich für unser Abendprogramm übernehmen durften, genau das beschrieben: „Johann Sebastian Bach ist sicher in Komponist, an dem ich versuche zu wachsen.“ Für den Laien sind Musiker wie Christian Tetzlaff, Daniel Hope, Matthias Kirschnereit quasi „fertige Musiker“, die eigentlich ja nicht mehr besser werden müssen und dennoch – sie üben jeden Tag weiter, sind jeden Tag auf der Suche nach ihrem Klang, nach ihrer Musik. Ein Geiger des NDR-Philharmonieorchesters sagte dazu mal sehr treffend: Man wird niemals perfekt sein, aber das Streben nach Perfektion darf niemals enden. Das Streben nach Perfektion, die Suche nach seiner Interpretation, nach seinem Klang, begleitet einen jeden Musiker sein Leben lang. Ich hege sehr viel Respekt vor diesen Menschen, die diesen Weg einschlagen.
Unter den ganz großen Geigern dieser Zeit werden so ziemlich alle in ihrer Laufbahn mal die Sonaten und Partiten gespielt und auch konzertant aufgeführt haben. Viele von diesen Musikern werden diese auch aufgenommen haben, ob als einzelne Sonaten oder als gesamten Zyklus. Jedoch werden nur ganz, ganz wenige sich der Herausforderung gestellt haben, alle sechs Sonaten und Partiten an einem Abend auf der Bühne vorzutragen.
J.S. Bach schrieb auf die Titelseite „Sei Solo“ – übersetzt „Du bist allein“. Allein, nur mit der eigenen Geige, betrat Christian Tetzlaff also am vergangenen Freitag die Bühne der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden. Er war schwarz, doch leger gekleidet, was aber zu diesem Konzert und auch zu Tetztlaff passend schien.
Mit einem satten g-Moll Dreiklang begann der Abend. Er spielte den Bach sehr unkonventionell. Teilweise mit wirklich sehr schnellen Tempi, Extreme in der Dynamik, wie sich es viele bei Bach nicht trauen. Normalerweise würde ich sagen, dass ich eine barocke Interpretation von Werken Bachs bevorzuge – sprich leicht, ohne vibrato, sehr durchsichtig usw. doch die persönliche Note, die Tetzlaff dieser Musik gegeben hat, war so inspirierend, so intim, so berührend, wie Musik meinem Empfinden nach sein sollte.
Neben den unzähligen Auftragswerken, die Bach zu Lebzeiten komponierte, fallen die sechs Sonaten und Partiten aus der Reihe. Menschen, die einen schweren Verlust erlitten haben oder in sonst einer Weise emotional tief getroffen wurde, greifen sehr häufig zu künstlerischen Mitteln, um diese Gefühle zu verarbeiten. So kann man auch die Solosonaten als eine Art Grabstein, wie Tetzlaff es beschreibt, für seine 1720 verstorbene Frau begreifen. Der Zyklus beschreibt zunächst eine immer trister werdende Stimmung, die mit Ende der Chaconne ihren Tiefpunkt erreicht hat. Es wäre ein verständlicher Abschluss eines Zyklus. Tod = Ende. Doch Bach entschied sich, das Werk fortzuführen und sich aus dieser Tiefe zu winden. Musikalisch war dies sehr deutlich gemacht. Die folgende Sonate ist die erste Sonate, die sich als eine Dur-Sonate entpuppt. Am Anfang ist dies noch nicht deutlich – die innere Zerrissenheit, die anhaltende Trauer sind noch im Vordergrund, doch der Kampf des Aufstieges ist deutlich und gelingt. Die dritte Partita umfasst dann fröhliche Sätze, mit Witz gespielt, kurze Tänze, die aber nicht nach purer, leidenschaftlicher Lebensfreude für mich klingen, sondern eher nach einer inneren Balance, die wiedergefunden wurde.
Nach Ende des Konzertes sprachen wir noch kurz mit Tetzlaff und wir fragten ihn, wie man ein solches Konzert durchhalten könne. Er zuckte mit den Schultern. Wenn man in den Flow gekommen ist, geht das eigentlich, sagte er. Und das merkte man ihm auch an. Wie viele Musiker bei derartigen Solokonzerten, spielte auch er zwar, abgesehen von der ersten Partita, auswendig, doch stand das Pult mit Noten zur eigenen Sicherheit in greifbarer Nähe. Als er jedoch wirklich in der Musik war, benötigte er diese Stütze auch nicht mehr, und die Musik kam einfach aus ihm und seiner Geige heraus.
Ich bin wirklich sehr dankbar, dass ich dieses einmalige Konzert mit Christian Tetzlaff, mit diesem außergewöhnlichen Programm erleben durfte. Nach solchen Konzertabenden habe ich immer große Lust meine Geige in die Hand zu nehmen und einfach zu spielen. Selbst wenn mein Spiel niemals an das heranreichen wird, was wir am vergangenen Freitag hören durften, so ist die Musik doch etwas, was einen persönlich angeht. Gerade Bach ist ein Komponist, dessen Musik zeitlos ist. Auch in 100 Jahren wird man diese Musik noch hören, spielen und verstehen, weil sie das Innerste im Menschen schafft zu berühren.