Die Klaviersonaten sind so etwas wie Ludwig van Beethovens musikalische Biografie. Keiner anderen Kompositionsgattung widmete er sich so ausgiebig. Nur dem Streichquartett blieb er ähnlich lange treu. Verwunderlich ist das nicht, schließlich war das Klavier eben das Instrument, mit dem Beethoven auch als Virtuose und Improvisator grenzüberschreitenden Ruhm erlangte. Und so erhob er nicht nur die Klaviersonate als Kompositionsform in ganz neue Sphären, sondern verpasste auch dem Instrument selbst einen Evolutionsschub in Richtung des heutigen Konzertflügels, den es ansonsten vielleicht nie gegeben hätte.
Als Beitrag zum Beethoven-Jahr haben die Gezeitenkonzerte ein ganz besonderes Vorhaben realisiert: Die Aufzeichnung sämtlicher 32 Beethoven-Klaviersonaten mit 19 herausragenden jungen PianistInnen der Musikhochschulen Hamburg, Hannover, Lübeck und Rostock. Vom 2. bis 8. Juli 2020 wurde der altehrwürdige Ständesaal der Ostfriesischen Landschaft in Aurich zum Filmstudio. Die Einspielungen werden in zwölf Teilen in der Gezeiten-Mediathek veröffentlicht. Hier finden Sie eine Gesamtübersicht aller Sonaten und Streams.
Programm
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Sonate für Klavier Nr. 4 Es-Dur op. 7
1. Allegro molto e con brio
2. Largo, con gran espressione
3. Allegro
4. Rondo. Poco allegretto e grazioso
Jiexu Li (Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover)
Sonate für Klavier Nr. 17 d-Moll op. 31 Nr. 2 „Der Sturm“
1. Largo – Allegro
2. Adagio
3. Allegretto
Alexander Vorontsov (Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover)
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Ausführliche Informationen zu den gespielten Werken:
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Nach dem dreiteiligen Zyklus des Opus 2, der der Gattung ganz neue Räume eröffnete, begann Ludwig van Beethoven kurze Zeit später gleich selbst damit, die frisch erschlossenen Möglichkeiten auszunutzen und komponierte in den Jahren 1796 und 1797 seine erste „Grande Sonate“. Der Name ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen. Bis zur späten „Hammerklaviersonate“ sollte es kein Klavierwerk geben, das es an Umfang mit dieser frühen Sonate aufnehmen konnte. Vor dem Hintergrund betrachtet, dass Beethoven nach wie vor für den privaten Kreis der Hausmusik schrieb, ist das durchaus bemerkenswert. Ebenso wie die Widmung: Die Sonate ist seiner blutjungen Klavierschülerin, der Gräfin Babette von Keglevics, zugedacht.Zum Musizieren in der Kammer oder gar für den Unterrichtsgebrauch passt der repräsentative Charakter des Opus 7 aber so ganz und gar nicht. Schon der fanfarenartige Beginn des Kopfsatzes zeugt von einer Größe, die mit jedem Tastendruck aus den Privatgemächern des Adels auszubrechen scheint. Die anschließende Themenfülle erweckt den Eindruck eines Komponisten, der gar nicht weiß wohin mit all seinen kreativen Ideen. Doch überladen wirkt die Musik an keiner Stelle. Dafür sorgt die klassische Knappheit von Durchführung und Reprise. Eine opulente Coda, die alle Themen noch einmal aufgreift, ermöglicht dann aber den notwendigen Glanz zum Schluss.
Der zweite Satz ist ein Largo, das mit großem Ausdruck gespielt werden soll. Zu Anfang ist es zuvorderst die gravitätische Langsamkeit, die den Charakter der Musik bestimmt. Beständige Pausen verhindern ein melodisches Fließen und sorgen für eine nachdenkliche, fast tiefsinnige Atmosphäre, ehe ein neues Thema mit kecker Achtelbewegung aufkommenden Trübsinn beiseite wischt. Doch das stockende Innehalten kehrt mit Macht zurück. Hinter jeder Phrase scheint ein Fragezeichen zu stehen. Auf eine Auflösung wartet man als Hörer allerdings vergeblich. Wenigstens der Schluss klingt dann aber wieder weitgehend versöhnlich.
Nachdem Beethoven im Verlaufe seines Opus 2 das klassische Menuett durch das ausgelassenere Scherzo ersetzt hat, löst er das neu erschaffene Prinzip in der Klaviersonate Nr. 4 gleich wieder auf. Da ist es nur folgerichtig, dass er es bei einem allgemeinen Allegro in der Satzbezeichnung belässt und den Mittelteil nur mit Minore, also Moll, überschreibt. Vom ursprünglich kurz gehaltenen Tanzsatz bleibt aber immerhin die Spritzigkeit erhalten. Die Ausmaße nehmen dafür ganz im Sinne der „Grande Sonate“ neue Dimensionen an.
Das altbewährte Rondofinale ermöglicht der Sonate einen geradezu lieblichen Ausklang. Von der vielzitierten Schwere, die Beethoven nur wenige Jahre später charakterisieren wird, ist an dieser Stelle noch überhaupt nichts zu spüren. Stattdessen versprüht der Abschluss der „Grand Sonate“ jene Fröhlichkeit und Luftigkeit, die geradezu perfekt in die Zeit passt. Auch die beinahe orchestral zu nennende Klangwelt des Kopfsatzes ist hier wieder einem rein pianistischen Ausdruck gewichen. Virtuos, aber immer galant ist Beethoven in die Welt der Kammermusik zurückgekehrt.
In einer „sehr passionierten Stimmung“ soll Beethoven laut Carl Czerny seine Klaviersonate Nr. 4 komponiert haben. Wie weit dieser vorgeblichen Leidenschaft über den Weg zu trauen ist, mag aber dahingestellt bleiben, war sein späterer Schüler doch zum Entstehungszeitpunkt des Werks gerade einmal sechs Jahre alt. Jedenfalls hält sich seitdem das Gerücht, Beethovens Gefühle zur jungen, adligen Widmungsträgerin seien viel weiter gegangen, als es sich für einen bürgerlichen Klavierlehrer geziemt. (Florian Zeuner)
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Im Jahr 1802 braut sich in Ludwig van Beethovens Leben etwas zusammen. Sein Gehörleiden verschlechtert sich dramatisch und auch sein Magen bereitet chronische Probleme. Abhilfe verspricht ein Aufenthalt in Heiligenstadt – damals ein Dorf in der Wiener Peripherie. Unter anderem die mineralhaltigen Quellen der dortigen Badeanstalt sollen Beethovens gesundheitlichen Ärgernissen beikommen. Den ganzen Sommer bleibt er dort. Erst im Herbst kehrt er nach Wien zurück. Nachhaltig erfolgreich scheint die Behandlung aber nicht gewesen zu sein, denn kurz zuvor, am 6. Oktober, schreibt er sein Testament und zieht darin auch eine Lebensbilanz.Das so genannte „Heiligenstädter Testament“ bietet wie keine zweite Quelle intimste Einblicke in Beethovens Seelenleben. Er rechnet darin schonungslos mit sich und der Welt ab. Aus heutiger Sicht mag es seltsam erscheinen, dass ein 31-Jähriger bereits seinen letzten Willen formuliert, im beginnenden 18. Jahrhundert war das aber durchaus ein Alter, in dem man sich mit dem Sterben auseinandersetzen konnte. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag nicht weit über den Vierzig. Bei Beethovens akuten körperlichen und seelischen Beschwerden ist der Vorgang daher als nicht weiter absonderlich zu betrachten.
„O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir“, heißt es zu Beginn des „Heiligenstädter Testament“. Im Anschluss gibt der Text Auskunft über seine fatale Krankheitsgeschichte. Beethoven weist darauf hin, „daß seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr“. Gemeint ist seine einsetzende Taubheit, die ihn dazu zwingt „einsam mein Leben zubringen“, obwohl er sich doch als „selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft“ charakterisiert. Kein Wunder, dass er bei diesem Dilemma auch über die letzte Konsequenz nachdenkt: „[E]s fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte.“Und in der Tat stehen die Kompositionen dieser Zeit dem „Heiligenstädter Testament“ quasi diametral gegenüber. Nichts ist zu spüren von einem gebrochenen Mann, der des Lebens überdrüssig geworden ist. Zurück in Wien spricht er stattdessen offen von der Unzufriedenheit mit seinem bisherigen Schaffen und einem „neuen Weg“, den er einzuschlagen gedenke, wie sein Schüler Carl Czerny uns überliefert. Die drei Klaviersonaten Opus 31 sind dabei die ersten Schritte dieser Entwicklung, die heute gerne als Beethovens „heroische Phase“ bezeichnet wird. Noch aus Heiligenstadt verschickte er die Manuskripte an seinen Verleger Hans Georg Nägeli nach Zürich. Für Zaudern blieb Beethoven offensichtlich keine Zeit.
Die berühmteste Sonate der Trias ist die Klaviersonate in d-Moll. Im kollektiven Gedächtnis ist sie vor allem auch aufgrund ihres reißerischen Beinamens gelandet: „Der Sturm“. Gemeint ist damit allerdings nicht das Naturphänomen, auch wenn Beethovens kompositorischer Tatendrang vor allem in den Ecksätzen als durchaus stürmisch zu bezeichnen wäre. Tatsächlich verweist der Beiname auf das gleich lautende Bühnenwerk von William Shakespeare mit dem berühmten Ausspruch vom „Stoff, aus dem die Träume sind“. Mit der Klaviersonate verknüpft wurde das Schauspiel allerdings erst einige Jahre nach dem Tod des Komponisten. Grund ist eine Anekdote, die der erste Beethoven-Biograf Anton Schindler in seinem 1840 veröffentlichten Buch erzählt. Auf die Bitte hin, ihm den Schlüssel zu den Sonaten in f-Moll – der späteren „Appassionata“ – und d-Moll zu geben, soll Beethoven geantwortet haben: „Lesen Sie nur Shakespeare’s Sturm.“
Ob es dieses Gespräch jemals gegeben hat, muss dahingestellt bleiben. Einige von Schindlers Berichten über Beethoven wurden noch zu Lebzeiten des Autors als Erfindungen entlarvt. Doch selbst wenn die Aussage so gefallen sein sollte, bietet sie keinen entscheidenden Mehrwert für das Verständnis der Sonate. Denn wer hier eine echte Programmmusik vermutet, die das Schauspiel musikalisch abbildet, der ist definitiv auf der falschen Fährte. Vielmehr verschleiern die Assoziationen, die der Beiname mit sich bringt, den eigentlichen Gehalt des Werks. Mit der nötigen zynischen Veranlagung könnte man in dieser Tatsache sogar die direkteste Verbindung zwischen der Klaviersonate und den magischen Verwirrspielen des Zauberers Prospero aus Shakespeares „Der Sturm“ sehen.
Der Kopfsatz der Sonate bietet – ganz im Sinne des „neuen Weges“ – etwas Andersartiges. Zu Beginn prallen in nur wenigen Takten drei verschiedene Tempi aufeinander: Dem Largo eines aufwärtssteigenden Arpeggios, in dem die Zeit still zu stehen scheint, folgt eine energisch voranschreitende Achtelkette fallender Sekunden in Allegro, ehe sich die Situation in einem Adagio-Abschluss wieder beruhigt. Weder handelt es sich dabei um eine typische langsame Einleitung noch um das eigentliche Hauptthema. Und doch ist es dieses motivische Material, das den weiteren Verlauf des Satzes prägt. Statt klarer kontrastierender Einheiten wird das Prozesshafte zum stilbildenden Mittel. Eine kompositorische Entscheidung, die letztendlich die außermusikalischen Assoziationen einer poetischen Idee hinter der Musik befördert haben dürften.
Auch der Mittelsatz beginnt mit einem Arpeggio im Pianissimo. Die Musik beschwört eine feierlich-sakrale Atmosphäre herauf, die von melancholischen Kantilenen dominiert wird. Doch Beethoven lässt kein Schwelgen oder Schmachten aufkommen. Kaum hat man es sich im träufelnden Fluss der Melodie gemütlich gemacht, sorgen beständige Störgeräusche in der linken Hand für magengrummelnde Unruhe. Einem kurzen Trommelwirbel gleich töten sie jegliches Zur-Ruhe-Kommen schon im Keim ab und tragen so die aufgekratzte Stimmung vom Kopfsatz ins finale Allegretto.
Der Schlusssatz lebt von seiner kaum einmal unterbrochenen Motorik. Jegliche thematisch-motivische Entwicklung verbirgt sich hinter dem stetigen pulsieren der Sechszehntel. Der charakteristische Impuls, der den Satz von Beginn an zusammenhält, soll Beethoven gekommen sein, als er ein Pferd an seinem Haus vorbeigaloppieren sah. Diese Beobachtung würde auch den leicht tänzelnden Impetus erklären, der dem Satz durchweg innewohnt. Eine Programmatik ganz anderer Art also. Von Shakespeares magischer Welt aus „Der Sturm“ ist an dieser Stelle jedenfalls nur mit viel Fantasie etwas zu spüren. (Florian Zeuner)