Die Klaviersonaten sind so etwas wie Ludwig van Beethovens musikalische Biografie. Keiner anderen Kompositionsgattung widmete er sich so ausgiebig. Nur dem Streichquartett blieb er ähnlich lange treu. Verwunderlich ist das nicht, schließlich war das Klavier eben das Instrument, mit dem Beethoven auch als Virtuose und Improvisator grenzüberschreitenden Ruhm erlangte. Und so erhob er nicht nur die Klaviersonate als Kompositionsform in ganz neue Sphären, sondern verpasste auch dem Instrument selbst einen Evolutionsschub in Richtung des heutigen Konzertflügels, den es ansonsten vielleicht nie gegeben hätte.

Als Beitrag zum Beethoven-Jahr haben die Gezeitenkonzerte ein ganz besonderes Vorhaben realisiert: Die Aufzeichnung sämtlicher 32 Beethoven-Klaviersonaten mit 19 herausragenden jungen PianistInnen der Musikhochschulen Hamburg, Hannover, Lübeck und Rostock. Vom 2. bis 8. Juli 2020 wurde der altehrwürdige Ständesaal der Ostfriesischen Landschaft in Aurich zum Filmstudio. Die Einspielungen werden in zwölf Teilen in der Gezeiten-Mediathek veröffentlicht. Hier finden Sie eine Gesamtübersicht aller Sonaten und Streams.

Programm

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Sonate für Klavier Nr. 29 B-Dur op. 106 “Große Sonate für das Hammerklavier”
1. Allegro
2. Scherzo. Assai vivace
3. Adagio sostenuto. Appassionato e con molto sentimento
4. Largo – Allegro risoluto 

Xingyu Lu (Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover)

ermöglicht durch:

 

 

 

#seidabei-Tickets

In turbulenten Zeiten wie diesen ist eines gefragter denn je: Solidarität. Die Gezeiten-Streams sind kostenintensiv – und wir haben bei diesen Geisterkonzerten natürlich keine Eintrittseinnahmen.

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Die #seidabei-Tickets gibt es in vier Preisstufen von 5,00 € bis 50,00 €.

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Ausführliche Informationen zu den gespielten Werken:

  • Beethoven macht keine Kompromisse – Klaviersonate Nr. 29 B-Dur op. 106 „Große Sonate für das Hammerklavier“

     
    Was ist eigentlich ein Hammerklavier? Diese Frage mag sich die eine oder der andere stellen, wenn der berühmt-berüchtigte Beiname von Beethovens Klaviersonate Nr. 29 fällt. Im Grunde steckt die Antwort schon im Namen selbst. Es handelt sich um ein Instrument, dessen Saiten beim Tastendrücken mit einem Hammer angeschlagen werden. Heutzutage ist das gang und gäbe. Und auch zu Beethovens Zeiten hatte sich diese Technik bereits weitgehend durchgesetzt, obwohl mit dem Cembalo und dem Clavichord noch zwei andere Vertreter im Umlauf waren. Beide Instrumente waren aber für die Kompositionen Beethovens weitgehend ungeeignet. Neben dem meist deutlich kleineren Tonumfang waren es vor allem die eingeschränkten dynamischen Möglichkeiten, die eine Interpretation von vorne herein zu einem Schildbürgerstreich hätten werden lassen.

    Im Grunde sind also alle Klaviersonaten Beethovens für das Hammerklavier komponiert und entsprechend steht die Frage im Raum, warum diese Tatsache gerade bei Opus 106 so stark ins Zentrum gerückt wird. Hierzu ist ein Blick in die Historie des Hammerklaviers erforderlich. Als Erfinder des modernen Klaviers gilt der Italiener Bartolomeo Cristofori. Seine Hammermechanik aus dem Jahr 1697, die er in den Folgejahren immer weiterentwickelte, war der Anfang vom Ende für das Cembalo und das Clavichord. Mit seinem „Cimbali con piano e forte“ war es nämlich fortan möglich, ohne Registerwechsel auf einem Instrument laut und leise zu spielen. Auch außerhalb Italiens bürgerte sich daher der Begriff Pianoforte ein.

    Die weitere Entwicklung der Hammerklaviermechanik war aber natürlich nicht nur auf Italien beschränkt. Auch in den anderen Ländern Europas setzte sich das Instrument mit der Zeit durch. Insbesondere der Komponist und Virtuose Beethoven und die Wiener Instrumentenbauer befeuerten sich in ihrer Arbeit gegenseitig. So lässt sich erklären, dass Beethoven bei seiner Sonate op. 101 erstmals darauf bestand, neben dem Pianoforte auch einen deutschsprachigen Namen aufzunehmen. „[O]hnehin ist die Erfindung auch deutsch, gebt Ehre dem Ehre gebührt“, schrieb er 1817 an seinen Verleger Sigmund Anton Steiner. Am Ende setzte sich die Bezeichnung Hammerklavier für alle zukünftigen Klaviersonaten Beethovens durch. Hängen geblieben ist sie als Beiname allerdings nur an der Klaviersonate Nr. 29 aus dem Jahr 1819. Rational begründen lässt sich das nicht, lediglich assoziativ gibt es Anknüpfungspunkte – etwa den Hammer als Symbol von Kraft und Macht, der scheinbar Felsenfestes spielend zu zerschmettern in der Lage ist.

    In ihrer Monumentalität hebt sich die „Hammerklaviersonate“ deutlich von ihren Schwesterwerken ab. Das betrifft nicht nur den bloßen Umfang, der mit seinen gut 45 Minuten neue Maßstäbe setzte, sondern insbesondere die kompositorische Radikalität, die die Grenzen der vorherrschenden Sonatenform wie auch der pianistischen Anforderungen endgültig sprengte. Dass das Werk dementsprechend kein plötzlicher Geistesblitz war, sondern Ergebnis jahrelanger Arbeit, erscheint da nur logisch. Der Entstehungszeitraum erstreckt sich von ersten Skizzen im Herbst 1817 bis zu den letzten, aber entscheidenden Korrekturen vor der Wiener Erstveröffentlichung 1819. Gerade in die Endphase der Komposition fällt auch die Konzeption anderer großer Spätwerke, die sich auch gegenseitig beeinflussten – etwa die Missa solemnis, die 9. Sinfonie oder die „Diabelli-Variationen“. Gleichzeitig verschlechterte sich Beethovens Gehör noch einmal nachhaltig. Fast vollständig ertaubt, konnte er nun nur noch schriftlich kommunizieren. Seine Klangvorstellungen existierten fortan allein in seinem Kopf, was formal wie harmonisch zu gewagteren Ansätzen führte. Darüber hinaus bereiteten ihm finanzielle Nöte sowie der Sorgerechtsstreit um seinen Neffen Karl zusätzliche Probleme von existenziellem Ausmaß. Auch diese mögen sich in der extremen Radikalisierung der Musik niedergeschlagen haben. Dazu passen auch die Worte eines Briefs vom 19. März 1819 an seinen ehemaligen Schüler Ferdinand Ries in London: „[D]ie Sonate ist in drangvollen Umständen geschrieben, denn es ist hart beynahe um des Brodeswillen zu schreiben.“

    Selbst wenn die persönliche Situation das vermuten ließe, ist die Musik keineswegs eine ausschließlich düstere und abgründige. Vielmehr durchmisst sie in unerschrockener Kühnheit die Wellentäler der Emotionalität, spannt aufreizend große Bögen und baut doch primär auf die kleinen, elementaren Bestandteile ihrer selbst. Analysen haben gezeigt, dass es die Terz als Intervall sowie die Tonarten B-Dur und h-Moll sind, die die vier Sätze aufs engste zusammenhalten. Beim ersten Hören erschließt sich das dem Publikum freilich nicht wirklich. Vielmehr scheint die Welt nach dem majestätischen Eingang des ersten Satzes mehr und mehr aus den Fugen zu geraten. Immer wilder wird die Fahrt, die Bezugspunkte geraten aus dem Blickfeld, ehe sie wie ein vom Himmel geschickter Rettungsanker doch wieder zum Vorschein treten. Nicht nur für den Solisten, auch für das Auditorium stellt dieser Satz eine schwer zu durchdringende Komplexion dar, ein verwinkeltes Labyrinth aus Modulationen und thematischen Entwicklungen. Es ist eine wahre Tour de Force, an deren Ende alle Gewissheiten über Bord gegangen sind.

    Das kurze Scherzo im Anschluss scheint da eine Erholungspause zu bieten, doch schon nach wenigen Takten zeigt sich, dass die anfängliche Heiterkeit eine aufgesetzte war. Zwischen tiefsten Tiefen und höchsten Höhen tut sich ein Abgrund auf, der auch von einem Lauf über sechs Oktaven nicht überbrückt werden kann. Das Sechzehntelgelächter im Anschluss klingt entsprechend höhnisch. Die süße Wiederaufnahme des Anfangsthemas kann man da nur noch als Farce begreifen, was der weitere Verlauf des Satzes auch bestätigt. Selbst das liebliche Pianissimo-Ende täuscht über nichts mehr hinweg.

    Das folgende Adagio sostenuto ist der längste langsame Satz in Beethovens Klaviersonatenschaffen. „Leidenschaftlich und mit viel Empfindung“ soll er gespielt werden, was angesichts des tieftraurigen Hauptthemas fast schon eine Selbstverständlichkeit darstellt. Wie schon im Kopfsatz schüttelt auch hier die Musik die ihr zugrunde liegende Form ab, ohne sie gänzlich abzustreifen. Sakrale Einschläge, namentlich Bezüge zur Missa solemnis, lassen Schmerz und Ruhe Einzug halten. Auf sich selbst zurückgeworfen kann man das als eine etwa 20-minütige Meditation betrachten, die auf das vorbereitet, was dann im Anschluss noch kommen wird.

    Und das ist, wie bei dieser Sonate nicht anders zu erwarten, erneut gewaltig. Dabei kokettiert das Finale zu Beginn noch ganz entspannt mit dem Ungefähren. Fast wie vom Augenblick dahingeworfen wirken die leisen Bruchstücke des Largos. Mal wird mit dem Rhythmus gespielt, mal mit Motivfetzen. Ein explosiver Ausbruch hier, ein Triller da. Und dann ist die Tändelei endgültig zu Ende und eine dreistimmige Fuge über 385 Takte beginnt – mit aller Konsequenz und allen erdenklichen Ausformungen, die der barocke Kompositionskasten bereithält. Sperrig kommt dieser Satz daher, aber auch unglaublich dicht. Radikal subjektiv, aber auch sehr technisch. Es ist Beethoven in Höchstform und ein Ausblick darauf, zu was er in der Lage ist. Denn eine Eintagsfliege blieb diese Fuge nicht. Immer wieder griff er in seinem Spätwerk auf diese Technik zurück, die zuletzt in der Komposition der „Großen Fuge“ op. 133 gipfelte. (Florian Zeuner)

Wir bedanken uns bei unseren Festivalförderern