Gedanken zum Gezeitenkonzertprogramm 2017
Nun ist es also wieder so weit: Der Programmheftautor der Gezeitenkonzerte – also ich, Ulf Brenken – hat quasi wieder Freizeitverbot. Zum sechsten Mal seit 2012, bin ich wieder voller Vorfreude auf die Musik der 32 Konzerte, von denen diesmal 19 mit umfangreichen und 10 weitere mit Übersicht schaffenden Einführungsbeiträgen von mir versehen werden wollen. Nur noch 110 Tage bis zum Auftaktkonzert!
„Sturm und Klang“ ist, in Anlehnung an die literarische Strömung des deutschen „Sturm und Drang“, die sich im knappen Zeitraum von zwanzig Jahren zwischen 1765 und 1785 abspielte, eher kein musikalisch definierbares Motto. Manchmal finden sich Verortungen im Bereich der frühen Klassik (Carl Philipp Emanuel Bach, die Mannheimer Schule, Joseph Haydn), aber als Musikfestival-tragendes Motto wäre es nur schwer mit programmatischen Inhalten zu füllen. Reduzieren wir es also hintersinnig und kurzweilig auf den Wortwitz, der Natur und Kunst miteinander verbindet und es damit durchaus eindeutig für die ostfriesischen Gezeitenkonzerte charakteristisch erscheinen lässt.
„Sturm und Klang“ halten in einigen Programmen Einzug. Mir imponiert am meisten die Zusammenstellung in der Emder Neuen Kirche am 30. Juli (Konzert 26), wo Christian Tetzlaff und Leif Ove Andsnes das ganz große Besteck herausholen, um ein gemeinsames Programm mit Violinsonaten von Leoš Janáček und Dmitri Schostakowitsch einzurahmen. Vor der Pause erklingen noch Franz Schuberts eigenartige, sehr späte Klavierstücke D 946, nach der Pause gibt es die komplette d-Moll-Partita BWV 1004 von Johann Sebastian Bach, mit dieser unfassbaren Chaconne als Schlusssatz. Für das Programm trifft unser Motto haargenau zu – und ich würde weitere Wege als den von Hamburg nach Emden und zurück in Kauf nehmen, um diesen beiden Weltklasseinstrumentalisten dabei zuzuhören!
Überhaupt zieht sich ein kleiner, heimlicher Schubert-Schwerpunkt durch das diesjährige Festivalprogramm, denn das Oktett (Emden, Konzert 1) korrespondiert mit dem Forellenquintett (Dunum, Konzert 17), dazu gibt es ein komplettes Schubert-Gesprächskonzert (Völlen, Konzert 12), das inhaltlich schon auf D 946 (Konzert 26) verweist. Außerdem bilden drei Orchesterlieder, fremdinstrumentiert von Benjamin Britten, Max Reger und Hector Berlioz und die Sinfonie Nr. 5 die zweite Konzerthälfte in Esens (Konzert 18). Kein schlechter Ansatz, um unser Motto musikalisch hochrangig darzustellen!
Querverbindungen kann man auch bei Serenaden-Musik von Antonín Dvořák finden (Eröffnungskonzert 1 in Emden und Wiesmoor, Konzert 10). Federico Garcia Lorca wird nacheinander in Aschendorf (Konzert 3) und Ditzum (Konzert 4) zu erleben sein. Werke von Dmitri Schostakowitsch werden bei uns erfreulich oft auf die Programme gesetzt; diesmal gleich viermal: kurz in Bargebur (Konzert 2), Wiesmoor (Konzert 10), und Münkeboe (Konzert 16), ausgiebig mit der bedeutenden, letzten Violinsonate op. 134, gespielt von den bereits erwähnten Christian Tetzlaff und Leif Ove Andsnes in Emden (Konzert 26). Erstklassige Musik von Johannes Brahms findet sich in Remels (Streichsextett Nr. 2, Konzert 13) und Emden (Violinsonate Nr. 1) – letztere originellerweise im Rahmen des Komponistenporträts von Jan Müller-Wieland (Konzert 25)!
Über allem steht jedoch wieder einmal der beliebteste Komponist der klassischen Musik überhaupt, ohne den auch wir nicht auskommen wollen. Gleich 7 von 32 Konzertprogramme enthalten Werke eines gewissen Wolfgang Amadeus Mozart (Konzerte 10, 11, 14, 19, 23, 27, 30), darunter ein halbes Grigory Sokolov-Programm in Leer (Konzert 23) und ein komplettes Abendkonzert in Emden (Konzert 11), wo sich nacheinander zwei Solisten (Fagottistin Rie Koyama und Pianist Matthias Kirschnereit) die Klinke in die Hand geben, um nach der Pause der Deutschen Kammerakademie Neuss unter der Leitung von Frank Beermann bei der Interpretation der meisterhaften Es-Dur-Sinfonie Nr. 39 zuzuhören. (Eigentlich schade, dass die mit Nr. 39 quasi verschwisterten Sinfonien Nr. 40 und Nr. 41 als Zugabestücke den Rahmen geringfügig sprengen würden!)
Mit einem Klangsturm ist dann beim Abschlusskonzert in Bunderhee (Konzert 32) zu rechnen, wenn das JPON in der zweiten Konzerthälfte Richard Strauss’ umfangreiches „Heldenleben“ auspackt. Bis dahin sind es ja auch nur noch 162 Tage. Strauss-Lieder erklingen übrigens auch schon in Aurich (Konzert 6). Also auf, ans Werk, die Programmhefttext-Korrekturleser in Ostfriesland wollen beschäftigt werden – und irgendwie werde ich mir trotzdem wie immer etwas Freizeit erschummeln, denn das Leben besteht auch 2017 nicht nur aus Gezeitenkonzert-Musik von Bach bis Schostakowitsch. Sondern ebenso aus dem Miterleben des diesjährigen Nichtabstiegs des SC Freiburg aus der ersten Fußball-Bundesliga …
Ulf Brenken