Sophia Schambeck (Flöte), Matthias Well (Violine), Maria Well (Violoncello) und Daniel Seng (Klavier) spielten am 11. August ein Kammerkonzert in der Johanneskirche von Boekzetelerfehn
Für einen Moment hatte ich den Verdacht, jetzt würde sogar das Internet passen müssen. Aber nein: „Boekzetelerfehn ist eine Ortschaft der Gemeinde Moormeerland im niedersächsischen Landkreis Leer.“ Wikipedia war schon überall! Und die heutigen Handtaschencomputer, auch der meiner Tochter, finden jede aktuelle Adresse. Also trafen wir – als dreiköpfige Familie per Mietwagen aus Hamburg angereist – sehr entspannt eine Stunde vor Konzertbeginn ein.
Regenfrei draußen sitzen – in diesem Sommer eine andauernde Normalität: Auch wir genossen erstmal das Catering-Angebot und betraten die schmucke Johanneskirche erst kurz vor Konzertbeginn. Dort war alles durch „das beste Orga-Team Nordeuropas“ (Matthias Kirschnereit am Folgetag in Bunderhee) mal wieder perfekt vorbereitet. Landschaftspräsident Rico Mecklenburg begrüßte die Besucher zur Premiere der „Gezeitenkonzerte“ an diesem Spielort, der selbstverständlich ausverkauft war.
Und dann ging es los! Zunächst spielten die vier jungen Musikerinnen und Musiker – je zwei Damen und zwei Herren – gemeinsam sechs Rumänische Volkstänze von Béla Bartók. Die klassische Klaviertrio-Besetzung (Geige, Cello, Klavier) komplettierte Sophia Schambeck mit ihren diversen Flöten zum Quartett, wobei sie bereits hier abwechselnd zwei verschiedene Instrumente spielte.
Dann der Auftritt von Matthias Well (Violine) und Daniel Seng (Klavier): Antonio Bazzini (1818-1897) dürfte 98,5% der Gezeitenblogleser unbekannt sein – protegiert von Paganini und späterer Lehrer eines gewissen Puccini, hat dieser unbekannte Italiener einen doch spannenden Lebenslauf. „La ronde des lutins“ (Tanz der Kobolde) ist sein einziges halbwegs „bekanntes“ Werk – und ein teuflisch schweres dazu. Oder, um es mit Matthias‘ verharmlosend-einleitenden Worten zu sagen: „Das Stück ist nicht einfach.“ Hier sprang der Bogen, es zupfte gleichzeitig, atemberaubendes Tempo bestimmte die virtuosen Passagen, alle möglichen Geigentechniken konnten bestaunt werden, und dazu war das gerade einmal fünfminütige Musikstück fein auskomponiert. Wahrscheinlich ist sogar der Klavierpart nicht „ohne“, aber auf Daniel Seng hat kaum jemand geachtet… Jubelnder Beifall und stürmisches Getrampel waren der Lohn für diesen frühen Höhepunkt eines entspannten sommerlichabendlichen Konzertes.
Daniel Seng erläuterte anschließend, wie wertvoll für ihn als Pianisten Frédéric Chopins 24 Etüden sind, die zwar durchaus titelgebend technische Schwierigkeiten behandeln, jedoch gleichzeitig auch einfach hochemotionale Musik enthalten. Im Laufe des Abends spielte er sieben dieser Stücke aus dem zweiten Band (Nr. 13 bis 24), vier vor und drei weitere nach der Pause. Und ich muss zugeben, dass ich sie nicht alle gekannt habe – hier gilt es, „weiße Flecken“ zu tilgen, da hat Daniel schon recht. Das begeisterte Publikum holte den Solisten mehr als einmal zum Podium, damit er den Applaus genießen sollte.
Anschließend spielten Sophia Schambeck und Daniel Seng eine unbekannte dreisätzige Oboensonate von Johann Sebastian Bach (BWV 1059) in einer Sopranblockflötenfassung. Eigentlich sind nur neun Takte dieser Musik autografisch erhalten, aber die Musikwissenschaft hat eine überzeugende Rekonstruktion möglich gemacht, so dass die karge Bach-Kammermusik für Bläser nun ein weiteres Werk auf der Habenseite kennt. – Erst nachträglich wurde dem Publikum durch Maria Well bekannt gegeben, dass Daniel die Begleitung in cis-Moll statt in d-Moll zu spielen hatte, was er erst einen Tag vor dem Konzert erfuhr: Dass dieser Stress nicht zu hören war, ist eine tolle Leistung!
Das kleine Salonstück „Salut d’amour“ von Edward Elgar, eigentlich für Violine und Klavier, aber in der heute dargebotenen Bearbeitung für Cello und Klavier „seiner echten Bestimmung zugeführt“ (so Maria Well), leitete zum letzten Werk vor der Pause über, zwei Sätzen aus Astor Piazzollas „Las Cuatro Estaciones Porteñas“ (Die vier Jahreszeiten) für Klaviertrio: Invierno porteño (Winter) und Primavera porteña (Frühling). „Beim nächsten Mal spielen wir dann Sommer und Herbst“, bemerkte Maria und entließ uns nach einer ersten Stunde abwechslungsreicher Musikerlebnisse in die Konzertpause.
Danach war es dunkel geworden, jedenfalls im Kirchenschiff, und die Titel der Musikstücke ließen sich aus dem Konzertprogramm kaum noch ablesen. Aber die jeweiligen Interpreten blieben bei ihrer Vorgehensweise und erläuterten launig den bevorstehenden Programmpunkt. Nur das zeitgenössische Duo „Present“ von 1992 für Violine und Violoncello des Tschechen Ondřej Kukal (*1964) blieb „wortlos“. Aber Matthias Well (Violine) und Maria Well (Violoncello) ernteten für ihr virtuoses Spiel auch so stürmischen Beifall.
Ausgehend von einem tropfenden Wasserhahn in Kraków, komponierte Sophia Schambeck ihr eigenes Stück „Kolofal“ (2018) für Blockflöten, Tonband und Live Electronics. Diverse Lautsprecher waren im Kirchenraum verteilt und spielten Alltagsgeräusche ein, die von Sophia auf der Bühne durch tiefe Renaissanceflötentöne ergänzt wurden – ein außergewöhnliches, experimentelles Erlebnis, das auch vom Publikum angenommen wurde. Danach spielte sie noch das Debussy-Stück „Syrinx“ für Flöte solo und gemeinsam mit Daniel Seng Ravels „Pièce en forme de Habanera“ in einer Bearbeitung für Flöte und Klavier.
Hans Henning Ginzel (*1988) ist ein cellospielender und komponierender Kommilitone von Maria Well, und von ihm ist das originelle Duo “Matchpoint“ für Violine und Violoncello, das Matthias (Violine) und Maria (Violoncello) nun zur Aufführung brachten. Das Besondere an der musikalischen Gestaltung ist die Einbeziehung von etlichen Tennisbällen, die als Rhythmusgeber und Klangerzeuger einbezogen wurden – aber natürlich auch geschwisterliche Zwistigkeiten offensichtlich werden lassen…
Der kurzweilige Abend ging seinem Ende entgegen. Wie schon im Vorjahr (sowohl in Aurich als auch in Dangast) präsentierten man den „Csárdás“ von Vittorio Monti als effektvollen Rausschmeißer, diesmal mit dem Klaviertrio auf der Bühne und Flötistin Sophia als klangliche Ergänzung auf der gegenüberliegenden Orgelempore – so gut gespielt wie hier und heute ein sicherer Erfolg: Das Publikum feierte die Musiker mit Applaus, Trampeln und Bravorufen, eine Zugabe war da nur logisch. Extra für diesen Abend hatten die Musiker Aram Chatschaturjans berühmt-effektvollen „Säbeltanz“ (Tanz der Kurden) aus dem Ballett „Gayaneh“ für ihre Instrumente arrangiert!
Ein lauwarmer Sommerabend in Boekzetelerfehn, eine knapp halbstündige Rückfahrt in unser kleines Hotel südlich von Leer – am Folgetag erwartete uns noch das Schlusskonzert der diesjährigen Saison. „Leinen los!“ hieß es auf alle Fälle passend für diesen vorletzten Konzertabend hinter Leer im (für Hamburger Besucher) unbekannten Niemandsland. Sophia Schambeck, Matthias Well, Maria Well und Daniel Seng hatten demonstriert, dass sie zu Recht die Gesichter auf den diesjährige Titelblättern, Plakaten und Konzertankündigungen geworden sind: Das bunte und unterhaltsame Programm, dessen roten Faden man gar nicht erst zu suchen brauchte, wurde quasi zur anspruchsvollen „vierten Halbzeit“ einer Langen Nacht. Schönen Dank, herzliche Grüße und auf Wiedersehen!