„Finde ich Bach jetzt eigentlich noch schön?“

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Porträtkonzert Neue Musik mit Helmut Lachenmann

Helmut Lachenmann und Matthias Kirschnereit im Dialog, Foto: Karlheinz Krämer
Helmut Lachenmann und Matthias Kirschnereit im Dialog, Foto: Karlheinz Krämer

Gezeitenkonzerte sind toll, abwechslungsreich und spannend. Neue Musik betrachte ich allerdings als Banause eher als Herausforderung und höre sie mir lieber von weitem an. Gestern hatte ich beim Neue Musik-Porträt Helmut Lachenmann in der Kunsthalle Emden aber schlechte Karten: Ich „musste“ mich in die letzte, nachträglich eingezogene Reihe setzen. Da ich nun aber zuvor schon mit dem großen und großartigen Komponisten telefoniert und festgestellt hatte, dass der 80-Jährige ein unglaublich netter, zuvorkommender Mann ist, konnte ich mich glücklicherweise voll und ganz auf das denkwürdige Konzert einlassen.
Mit einem großen Satz enterte Matthias Kirschnereit, künstlerischer Leiter des Festivals und damit Initiator dieses speziellen Formats, die Bühne im Kunsthallen-Atrium. Er machte den Auftakt mit den Fünf Variationen über ein Thema von Franz Schubert für Klavier, die bereits 1956 entstanden sind. Mir persönlich gefiel diese frühe Komposition wider Erwarten gut, begann sie doch harmonisch, nicht viel erinnerte mich an Schubert, aber noch weniger an die gefürchtete Neue Musik. Natürlich waren auch Wachmacher und erregte Parts dazwischen, zum Ende wurde es reduzierter. Insgesamt waren es acht Minuten voller Musik.

Matthias Kirschnereit mit Fünf Variationen über ein Thema von Franz Schubert für Klavier, Foto: Karlheinz Krämer
Matthias Kirschnereit mit Fünf Variationen über ein Thema von Franz Schubert für Klavier, Foto: Karlheinz Krämer

Für Matthias Kirschnereit sei es quasi die Krönung, Helmut Lachenmann im fünften Jahr der Gezeitenkonzerte sowohl für die Moderation als auch für ein selbstgespieltes Stück gewonnen zu haben. Der Komponist sei extra dafür aus Italien angereist. Seit seinem Studium habe er eine persönliche Beziehung zu Helmut Lachenmann. Sein Kommilitone Stephan Storck, der uns letztes Jahr eine Uraufführung beim Gezeitenkonzert mit dem Aleph Quartett in Hesel beschert hat, kam häufig zu ihm und sagte: „Matthias, da ist wieder etwas von Lachenmann, das musst Du Dir anhören!“
Kolossal durcheinander gebracht habe ihn dann die Uraufführung des „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ 1996 in Hamburg. Spontan kam aus dem Publikum ein beipflichtendes „Ja!“. Nach dem Konzert habe Matthias Kirschnereit an einer roten Ampel gestanden und überlegt: „Finde ich Bach jetzt eigentlich noch schön? Und was sagt mir Mozart?“ Zutiefst bewegt von der Musik habe er sich die Oper noch einmal anhören wollen, aber keine Chance gehabt, da alle Aufführungen bereits ausverkauft gewesen seien.

Mit einem ebenso großen Satz kam der durchtrainierte Helmut Lachenmann dann zu ihm auf die Bühne und erklärte dem Publikum, dass seine Schubert-Variationen für ihn tatsächlich eher eine Jugendsünde seien, er im Gegensatz zu anderen Komponisten ihre Verbreitung jedoch nicht unterbinden werde. Es gehöre nun einmal zu seinem Schaffen dazu und „Jugendsünden sind doch etwas Schönes!“ Ich hatte mich beim Hören tatsächlich gefragt, ob und wo er Anleihen bei anderen Komponisten gemacht hat. Das Werk sei nicht ohne Erinnerungen an Webern und voll mit stilistischen Momenten und Anleihen an Strawinsky, entstanden in einer Zeit, da er der Pubertät einigermaßen entronnen sei. Wie gut, dass er das alles so locker flockig und sympathisch erklären konnte. Ich hätte sonst wieder Ulf fragen müssen: meinen Joker für alle Knackpunkte bezüglich klassischer Musik.
Selbstironisch erklärte er dem Publikum im ausverkauften Atrium, dass der Deutsche Musikrat nur Geld für CD-Produktionen gebe, wenn zumindest ein avantgardistisches Stück dabei sei – demzufolge sei er ein Avantgardist, und seine Werke würden häufiger eingespielt. Daran sollte vermutlich nicht nur ich im Anschluss an das Gesprächskonzert noch öfter denken.

"Ein Kinderspiel" für, von und mit Helmut Lachenmann, Foto: Karlheinz Krämer
“Ein Kinderspiel” für, von und mit Helmut Lachenmann, Foto: Karlheinz Krämer

„Ein Kinderspiel“ war der nächste Programmpunkt: mitnichten! Matthias Kirschnereit stellt sie gerne den Kinderszenen von Schumann gegenüber. Diese Vorstellung finde ich nach dem Hören interessant. Helmut Lachenmann machte, bevor er sich an den Flügel setzte, deutlich, was ihm grundsätzlich bei seinen Kompositionen wichtig sei; nämlich ein anderes Hören. Die Stille als Element zu nutzen, sei ein Wagnis, aber gerade in dieser lauten Zeit vielleicht enorm wichtig.
Er habe am Vorabend noch ein bisschen nach Matthias Kirschnereit bei YouTube geguckt und dabei auf die Frage an ihn, „Wie wäre eine Welt ohne Musik für Dich?“ gestoßen. Seine Antwort war schlicht: „Trostlos!“, was Helmut Lachenmann sehr freute. Der „alte Mann“ surft nicht nur bei YouTube mit seinem Smartphone, sondern läuft auch regelmäßig und wird oft von seiner Frau ermuntert, Klavier zu spielen. Das hält ihn sichtlich fit, sodass ihm seine 80 Jahre nicht anzumerken sind. Im Publikum sahen wir zur Abwechslung mal unbekannte Gesichter, jüngere Menschen und ein Blick in die Buchungsliste verriet, dass einige von weit her kamen, um Helmut Lachenmann und dieses Gezeitenkonzert live zu erleben.

„Ein Kinderspiel ist nichts für Kinder“, hieß es vorab. Beim Komponieren habe sich Lachenmann ein wenig leiten lassen von Morton Feldmanns Titel „Viola in my life“. Die Viola sei für ihn vielmehr das Klavier gewesen. Ihm komme es darauf an, Elemente einzuflechten mit denen wir anfangen zu hören. Dergleichen geschult hörten die hundert Konzertbesucher die sieben kleinen Stücke, die mit Namen versehen waren, die mir dafür sehr passend, sehr visuell nachvollziehbar erschienen. Beim Korrekturlesen des Abendprogramms hatten wir schon beim Titel des vierten Stückes „Falscher Chinese (ein wenig besoffen)“ geschmunzelt und sahen ihn nun vor uns torkeln. Allerdings verschwand zunehmend die volltönige, warme Klangfarbe des Klaviers und machte gedämpften, teilweise harten Tönen Platz. Viele Töne waren es ohnehin nicht, eher bestachen die kurzen Stücke durch die am Klavier erzeugten Effekte. Ein Blick in die Noten (oder Handlungsanweisungen?) wäre sicherlich aufschlussreich gewesen.
Im Anschluss erklärte Helmut Lachenmann, dass er seinem Verlag mindestens zwei Jahre lang nicht erlaubt habe, „Ein Kinderspiel“ zu veröffentlichen, da es ihm zu banal erschienen sei. Es ist keine Musik, die ich mir ständig anhören wollen würde, dafür fehlen mir einfach die vertrauten schönen Klänge, die gerade durch ein Klavier erzeugt werden können, aber ich fand sie sehr interessant und beeindruckend.

Für mich folgte vor der Pause der Höhepunkt des Abends: Gran Torso, 1970 von Helmut Lachenmann geschrieben, an diesem Mittwochabend in Emden vom jungen Furiant Quartett gespielt. Hier geht es eher um die Stille und ihre verschiedenen Arten: die erstickte Stille, die entspannte und die ausatmende Stille. Es ging nicht nur ums Hören, sondern auch ums Sehen, ums Beobachten. Im Anschluss fragte ich unseren Mitfahrer Vlad vom Furiant Quartett, ob er sich vorstellen könnte, „Gran Torso“ auf CD einzuspielen. „Durchaus!“, meinte er, aber auch er könne sich das nicht so oft anhören. Drei Monate lang habe es gebraucht, bis die vier das Stück drauf hatten, manchmal war es vermutlich zum Verzweifeln. Aber der große Meister habe mit ihnen zusammengearbeitet. Im Oktober steht beim Furiant Quartett der Master-Abschluss mit diesem Stück an.

Das Furiant Quartett mit "Gran Torso", Foto: Karlheinz Krämer
Das Furiant Quartett mit “Gran Torso”, Foto: Karlheinz Krämer

Die Viola macht bei Gran Torso den Auftakt und ist in meinen Augen auch das führende Instrument dieses Stücks. Sie war in den ersten Takten das einzige hörbare Instrument, aber klanglich – auch dank der nicht abschaltbaren Lüftung – nur zu erahnen. Nach einer Weile setzen die Geigen ein: ebenso wenig hörbar, noch später setzte auch das Cello ein. Das Sehen war sehr hilfreich, um nachvollziehen zu können, was dort auf der Bühne passiert. Gran Torso ist etwa 23 Minuten lang, also normale Streichquartett-Länge. Die Töne, die hier erzeugt wurden, stammten vom Bogen der über die Saiten strich, auf ihnen kratzte, sie anschlug. Es war faszinierend, was für Laute und darüber Stimmungen erzeugt wurden. Leise Töne wirkten entspannter, das Bogenschlagen erzeugte einen Hauch von Melodie. Komisch fand ich es nicht – ich hatte zuvor befürchtet, vielleicht (zumindest innerlich) lachen zu müssen. Es war interessant, und leichte Schabegeräusche von Schuhen der Nachbarn oder hörbares Umblättern war sehr störend, weil ablenkend. Andere Geräusche im Publikum wurden sofort von Mithörenden unterbunden. Minutenlanger Applaus war der Lohn für das Furiant Quartett. Und der letzte Ton kam wider Erwarten vom Cello, nicht von der Bratsche, wie ich es nun erwartet hatte.

Yukiko Sugawara und Yuko Kakuta mit "Got Lost", Foto: Karlheinz Krämer
Yukiko Sugawara und Yuko Kakuta mit “Got Lost”, Foto: Karlheinz Krämer

Nach der Pause stand noch ein weiteres Werk auf dem Programm: Got Lost. Beim Einsingen hörte ich auf dem Flur der Kunsthalle, über welch ein tolles Stimmvolumen Yuko Kakuta verfügt. In dem zwischen 2007 und 2008 entstandenen Werk für Stimme und Klavier, letzteres wunderbar gespielt von Yukiko Sugawara, der Ehefrau Lachenmanns, werden drei Texte verarbeitet: „Der Wanderer“ von Friedrich Nietzsche, ein portugiesisches Gedicht von Fernando Pessoa und ein englischer Zettel aus einem Aufzug, mit dem jemand seinen Wäschekorb sucht, weil es ohne Korb so mühselig sei, die Wäsche in die Wohnung zu transportieren. Es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, noch einmal etwas für eine Singstimme zu komponieren, so Helmut Lachenmann. Im Gegensatz zur Oper sei der Text hier bewusst auch nach mehrmaligem Hören nicht verständlich. Das Wortspiel, dass auch „Got lost“ auch gottlos werden könne, sei ihm nicht gleichgültig, sondern sein Spiel mit phonetischen Elementen – immerhin 25 Minuten lang.
Vom richtigen Gesang konnte man nicht sprechen. Das Stimmvolumen und die Fähigkeiten von Yuko Kakuta ließen sich erahnen, aber es waren überwiegend Zischlaute, zwischendurch ein Pfeifen, ein Schnalzen, das Schlagen auf die Wange, der Effekt, gegen einen geöffneten Flügeldeckel anzusingen und ab und zu ein gesungenes Textfragment, das klar an die Ohren drang. Einmal war es da, etwas, das wie „Hurz“ klang und ich weiß, dass zumindest zwei Leute im Publikum an dieser Stelle belustigt waren. Noch einmal: Ich bin bekennender Banause!
Als vollständiger Satz war einmal „Kein Wort mehr!“ zu hören, ebenso wie das Wort „Stille“ klar rüberkam – sehr passend. Auch Yukiko Sugawara wusste durch manche Effekte im Klavier zu überraschen, diese hatten dann aber etwas mit Lärm zu tun. Welcher sprachliche Part das letzte Wort hatte, war nicht identifizierbar.

Ich bin sehr dankbar, dass ich dieses Porträtkonzert zu Helmut Lachenmann und vor allem mit ihm und seinen Erläuterungen miterleben durfte, hat es mich doch zu einem anderen Hören sensibilisiert. Für ihn sei es eine Art von Trauma-Bewältigung, bestimmte Stücke zu schreiben, sagte er mehrfach. Gerne hätte ich die „Fragerunde“ im Anschluss auch noch mitgenommen, aber wir mussten frühzeitig aufbrechen, damit Geiger Vlad Popescu zumindest den letzten Zug von Oldenburg gen Süden noch bekommen konnte.

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Ein Kommentar zu “„Finde ich Bach jetzt eigentlich noch schön?“

  1. wunderbare, gut und interessant geschriebene Konzertbeschreibung. Diese kann immer nur subjektiv sein, auch wenn der Hörer keine Banause wäre. . . .

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