Zugegeben, wir wussten auch nicht so ganz genau, was uns bei dem Titel „Tschaikowskys 175. Geburtstag. Ein CD-Festival mit Ulf Brenken“ erwartet, vor allem, weil uns vom Team der Gezeitenkonzerte klar war, dass Ulf so etwas bislang noch nie gemacht hatte. Bekannt ist er als Autor der Texte für die Programmhefte, so manchen Blogbeitrag und als Ko-Moderator der Langen Nächte.
Nun stand also am Sonntagnachmittag Tschaikowsky auf dem Programm. Wir waren alle ein wenig angeschlagen von zwei wirklich Langen Nächten in Folge, die aber wiederum beide sehr beseelend waren. Etwa vierzig Personen, viele davon hatten wir schon mehrfach bei den Gezeitenkonzerten begrüßen dürfen, hatten sich im Landschaftsforum eingefunden. Landschaftspräsident Rico Mecklenburg begrüßte kurz und schloss mit einem Tschaikowsky-Zitat: „Ich spielte einige Kompositionen von diesem schrecklichen Brahms. Was für ein unbegabter Bastard!“ Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite und den Bogen zu den „Neuen Bahnen“ gespannt.
Ulf Brenken erklärte, dass Tschaikowsky im Alter von elf Jahren seine Einstiegsdroge in die Musik gewesen sei. Musik sei seine absolute Inselbegabung, die ihn allerdings durchs Abi gerettet habe. Wenn man so mitbekommt, was er alles aus dem Ärmel schütteln kann, ist das schon sehr spannend.
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893) war und ist immer noch der populärste russische Komponist (auch in seinem Heimatland). Seine Stücke sind bekannt für ihren leicht zugänglichen Charme, der jedoch nie oberflächlich ist. Er wurde 1840 als zweiter Sohn eines Bergbauingenieurs geboren und bekam schon früh Musikunterricht, obwohl der Rest seiner Familie nicht besonders musikalisch war. Nach der Schule wurde er Angestellter im Justizministerium. Zu der Zeit gab es keinen Komponisten, der von seinen Schöpfungen leben konnte. Als Tschaikowsky 23 Jahre alt war, wurde in St. Petersburg das Konservatorium durch Anton Rubinstein gegründet. Dort nahm er bei Rubinstein selbst Unterricht in Komposition und Instrumentation. 1866 wechselte er nach Moskau, wo ihm Nikolai Rubinstein eine Stelle als Dozent am Konservatorium vermittelte.
1877 wurde Nadeschda von Meck, eine reiche Witwe, Tschaikowskys Mäzenin, mit der er sich in unzähligen Briefen sehr innig über Gott und die Welt austauschte. 1890 fand diese Partnerschaft ein jähes Ende aufgrund einer angeblichen Insolvenz. Den ohnehin psychisch labilen Tschaikowsky traf das sehr, zumal er viel Kraft aus seiner Brieffreundschaft zog, die mit dem Ende der finanziellen Unterstützung ebenfalls zu Ende ging. Ebenfalls 1877 ging er eine unglückliche Ehe mit einer Frau ein, die vorgab, sich verzweifelt in ihn verliebt zu haben. Aus Mitleid und vermutlich auch, um seine Homosexualität zu kaschieren, gab er ihrem Drängen nach. Allerdings führten die Scheinwahrung und der Ekel vor Körperlichkeit mit ihr zu einem Zusammenbruch. Die Ehe wurde nie geschieden, Tschaikowsky zahlte zeitlebens Unterhalt.
Sein Tod steht unter mysteriösen Umständen. Offiziell ist er der Cholera-Epidemie zum Opfer gefallen. Dann allerdings mutet es komisch an, dass sein Leichnam noch besucht werden durfte. Das verwunderte sogar die Presse. Wahrscheinlicher ist, dass er sich selbst umgebracht hat, möglicherweise, um eine Liaison mit einem jungen Mann geheim zu halten und seine Ehre zu wahren.
Ulf Brenken hatte ein prall gefülltes Köfferchen dabei: viele Noten, natürlich CDs und Bücher. Nach dem kurzen Ausblick in Tschaikowskys Leben ging es um dessen Musik. Anhand der Noten der Pathétique (auf die beiden Leinwände projiziert) erklärte Ulf die verknoteten Geigenstimmen, die man wohl sehen, aber nicht hören kann: die ersten Geigen spielen die Obertöne, die zweiten die unteren: sehr anspruchsvoll, und zusammen klingt es toll. Dann gab es den entsprechenden Ausschnitt aus der Sinfonie.
Bereits 1876 galt Tschaikowsky als aufstrebender Komponist, der zu dieser Zeit auch Europa bereiste. Oft war er beispielsweise in Hamburg zu Gast. Klaus Mann hat ihm mit seinem Roman „Symphonie Pathétique“ 1935 ein Denkmal gesetzt.
Auch Anekdoten aus Tschaikowskys Leben grub Ulf aus: Dieser sollte für eine Zeitung über die Wagner-Festspiele Bayreuth berichten. Dort hatte man zwar alles, was ging als Quartier bereit gestellt, nicht aber genug zu essen für die Gäste, Musiker und Kritiker. So unterhielt man sich mehr über das Essen als über die Musik.
Tschaikowsky hatte durch Zufall einen Band von Dantes “Göttlicher Komödie” in die Hand bekommen, in dem Kupferstiche von Gustave Doré zu sehen sind. Sie zeigen u. a. Dante und Vergil in der Hölle. Ein weiteres Bild aus einem Stummfilm von 1911 zeigte Francesca und Paolo in einer innigen Umarmung, was die Aufmerksamkeit der beiden Herren weckt. Der Schatten Francescas erzählt auf die Frage, wie sie denn in die Hölle gekommen seien, dass sie sich schon früh in Paolo verliebt habe, aber dessen Bruder zur Frau gegeben worden sei. Einmal haben die beiden zusammen einen Roman von Lanzelot gelesen. Als Lanzelot seinen Kuss bekam, küsste nun Paolo Francesca – und in diesem Moment kam der Gemahl dazu und erstach beide. Ob dieser Geschichte schwinden Dante die Sinne und er sinkt wie tot zu Boden. (Musikalisch klingt das nach Wagner und Bayreuth, was Tschaikowsky auch nie bestritten hat.) Die musikalische Umsetzung Tschaikowskys zeigt sich in der Orchesterphantasie „Francesca da Rimini“, die Ulf bis jetzt einmal live gehört hat. Es ist ein sehr selten zu erlebendes Werk. Dank der Unterstützung von Gert Ufkes konnten wir es zumindest von der CD hören, mit ergänzenden Hinweisen von Ulf. Er hatte vorher bereits angekündigt, dass es bei dieser Veranstaltung durchaus erlaubt sei, aufzustehen, sich einen Kaffee zu holen oder ähnliches: „Zuhause sitze ich auch nicht eine halbe Stunde stumm und wie angewachsen vorm CD-Spieler!“ Das war sicherlich für einige gewöhnungsbedürftig, wurde aber angenommen und war nicht störend. Im Gegenteil: Für viele war das eine Möglichkeit, sich direkt bei uns zu melden, dass sie den Nachmittag nicht in dieser Form erwartet hätten, aber sehr angetan wären. Gerade für diejenigen, die sich zwar für klassische Musik interessieren, aber keine oder wenig Ahnung haben, hat Ulf alles sehr gut erklärt und an ausgesuchten Beispielen verdeutlicht. Manchmal kann man einfach besser zuhören, wenn man den Gedanken, der hinter der Komposition gestanden hat, versteht. Gut fand ich, dass Ulf, nachdem er merkte, dass dieser Nachmittag sonst bis in den Abend reichen würde, reagieren und kürzen konnte, sodass es kurzweilig blieb.
Witzig war die 14-Sekunden-Einspielung der Originalstimme Tschaikowskys von 1890, der mit anderen versuchen wollte, Anton Rubinstein zu einer Aufnahme eines Konzertes zu überreden. Dieser Versuch war nicht von Erfolg gekrönt. Dennoch mutet es seltsam an, dass diese Aufnahme so lange unbeschadet erhalten geblieben ist und erst 1997 entdeckt wurde.
Im Folgenden gab es weitere Seh- und Hörbeispiele, die anhand der Noten oder ihres Aufbaus erklärt wurden. Zum Schluss kam noch eins von Ulfs Lieblings-Tschaikowsky-Stücken: Der Wojewode. Und zwar kommt hier erstmalig eine Celesta zum Einsatz. Tschaikowsky hatte um 1886 von diesem neuen Instrument aus Frankreich gehört und sich sofort eines besorgen lassen. Er war begeistert von ihrem himmlischen Klang, und so kommt sie auch im Tanz der Zuckerfee im Nussknacker-Ballett zum Einsatz. Aber zurück zum Wojewode: Das ist ein Heerführer, und in diesem Fall kommt dieser nachts nach Hause und findet das Ehebett verwaist vor. Beim Komponieren hatte Tschaikowsky einen Text von Puschkin vor Augen – die Umsetzung klingt fast filmografisch. Der Wojewode findet seine Vermutung bestätigt und macht sich gemeinsam mit seinem Diener auf die Suche nach seinem untreuen Weib. Er findet sie zusammen mit einem Mann am Brunnen. Dieser hatte die Frau schon lange umworben, kam aber gegen den Wojewode und sein Standing nicht an. Der Wojewode lädt sein Gewehr und befiehlt dem Diener, das gleiche zu tun. Dieser weist darauf hin, dass er nicht so gut schießen könne. Dennoch ordnet der Wojewode an, er solle die Frau erschießen. Der Diener trifft stattdessen jedoch seinen Herrn. In der Musik ist diese Geschichte klar erkennbar: Der Ritt nach Hause, das Getuschel der beiden Männer durch die Klarinette dargestellt (wäre man der russischen Sprache mächtig, könnte man vielleicht noch mehr raushören?), die Szene am Brunnen hat eine eigene Klangfarbe – dann der Schuss und Schluss!
Entstanden ist diese Komposition wenige Tage nach der Übermittlung des Entschlusses von Frau von Meck, Tschaikowsky nicht weiter zu unterstützen. Aufgeführt wurde sie erstmalig 1891. Das Orchester fand das Werk allerdings schlecht, sodass Tschaikowsky im Anschluss die Noten vernichtet hat. Glücklicherweise hat ein Freund Tschaikowskys einen Satz Orchesterstimmen jedoch zurückgehalten.
Als direkte Rückmeldung aus dem Publikum kam, dass man es gut gefunden habe und auf eine Fortsetzung im kommenden Jahr hoffe. Orientierte man sich dann weiterhin nach Jubiläen, kämen Dvorák und Prokofjew in Frage. Bei einer spontanen Abstimmung lagen beide gleich auf. Schauen wir mal!