Was soll man sagen – kaum fünf Jahre ist es her, da habe ich im August 2012 mit meinen Eltern in Remels die Herren Christian Tetzlaff und Matthias Kirschnereit musizieren hören dürfen. Und schon war ich wieder hier! Diesmal insbesondere, weil meine liebste alte Hamburger Schulfreundin den Verdi Quartett-Geiger Matthias Ellinger kannte, sich dessen Auftritt gern live anhören wollte und ein Auto besitzt.
Zugegeben, am Abend des Eröffnungskonzertes in Hamburg am Schreibtisch zu sitzen, ist schon ziemlich befremdlich. Und erst zum Konzert Nr. 13 bei den Gezeitenkonzerten aufzukreuzen, macht unfroh und wird im kommenden Jahr durch verbesserte Urlaubsplanung auch nicht wieder vorkommen! Daher traf ich erst jetzt, gut zwei Wochen nach Festivalbeginn, auf eine tiefenentspannte Orga-Truppe, die den Begriff „Nervosität“ wahrscheinlich nicht mal richtig schreiben kann, weil sie ihn nicht kennt. Dirk Lübben behauptete sogar glaubhaft, sich bisher alle Konzerte angehört zu haben und sich am heutigen Tag noch mehr auf Schönberg als auf Brahms zu freuen. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus! Das kann ja nicht nur allein an den sensationellen Programmhefttexten liegen…
„Weit über zweihundert Besucher“, so hat Wiebke Schoon mir berichtet, [es waren sogar 250; Anmerkung der Administratorin] hatten sich in der schönen St. Martinskirche in Remels eingefunden, das Konzert war damit annähernd ausverkauft. Helmut Collmann, ehemaliger Präsident der Ostfriesischen Landschaft, freute sich in seiner kurzen Ansprache über gleich drei Förderer und dankte der Kirchengemeinde, die unser Festival regelmäßig zu Konzerten bei sich haben möchte, für die wieder einmal freundliche Aufnahme. Dann kamen die sechs Musiker durch den Mittelgang zu ihren Plätzen im Altarraum, das Publikum zu beiden Seiten saß sozusagen Spalier.
Das erste von zwei Musikstücken an diesem Spätnachmittag war das Streichquartett Nr. 2 in G-Dur op. 36 von Johannes Brahms. „Da habe ich mich von meiner letzten Liebe losgemacht“, schreibt er 1865 darüber an einen Freund. Die Beziehung zu seiner Verlobten Agathe von Siebold hatte Ende der 1850er Jahre nicht lange gehalten, aber als Komponist hat man ja immer die Möglichkeit, persönliche Dinge auch höchstpersönlich zu regeln. Gäbe es nicht an exponierter Stelle im ersten Satz das „A-G-A-(T)-H-E“-Motiv in der ersten Violine zu entdecken – wer weiß, ob wir dem jungen Mann sonst so leicht auf die Schliche gekommen wären…
Das Verdi Quartett besteht naturgemäß aus zwei Violinen (Susanne Rabenschlag und Matthias Ellinger), Karin Wolf (Viola) und Zoltán Paulich (Violoncello), was für ein Streichsextett knapp nicht ausreichend ist. Also verstärkte man sich mit Volker Jacobsen (Viola) und Gabriel Schwabe (Violoncello), was – so sagte man mir – eine bestens funktionierende musikalische Zusammenarbeit ermöglichte. Klangen die ersten Sekunden des Brahms-Sextetts (auch wegen ihres heiklen Anfangsrhythmus) noch etwas verwackelt, so kamen die Musiker danach doch sofort auf Touren. Erstaunlich, wie laut sechs Streicher sein können, wenn sie erstmal eine Forte-Stelle in den Noten finden! Der Altarraum, akustisch ja darauf angelegt, gut ins Kirchenschiff zu vermitteln, tat ein Übriges. Und so wurde es ein höchst intensives Klangerlebnis, das mich vor allem im langsamen dritten Satz bis an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit in den Bann zog. Ich höre eigentlich viel Musik, aber jetzt war ich schon zur Pause ziemlich „platt“. Großer Beifall!
Die zweite Hälfte bot das Streichsextett op. 4 „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg, komponiert knapp vor der vorletzten Jahrhundertwende (1899). Zugrunde liegt ein Gedicht von Richard Dehmel (aus „Weib und Welt“, 1896), das uns nicht nur heute eher seltsam vorkommt. Ein zeitgenössischer Rezensent hat es so zusammengefasst: „Ein Weib trifft den Herrn ihrer Seele, nachdem es vom Herrn ihres Leibes ein Kind empfangen; der Erstere erklärt sich unter dem Eindruck einer herrlichen Mondnacht zur Übernahme reueloser Stiefvaterschaft bereit. Und das soll durch Musik ohne Worte geschildert werden?“ Schönberg kriegt das hin – „Verklärte Nacht“ ist seine bis heute am häufigsten gespielte Komposition. Und was noch beeindruckender war: Auch das verstärkte Verdi Quartett hat das hingekriegt – und wie! Selten kam mir eine halbe Stunde Musik dermaßen kurz vor wie an diesem Spätnachmittag in Remels – für mich auch mental überraschend, weil das Zuhören jetzt sehr leicht fiel. Die Darbietung war vom ersten bis zum letzten Ton eine wunderbare Leistung des Ensembles (bei dem nun die beiden Cellisten die Pulte getauscht hatten). Es klang je nachdem zauberhaft und gegenwärtig, süffig und klangintensiv, hell und dunkel, roh und weich – einfach großartig!
Im Anschluss an dieses scheinbar einsätzige Sextett kannte das Publikum in Remels kein Halten mehr und forderte trampelnd oder rhythmisch klatschend eine Verbeugungsrunde nach der nächsten. Susanne Rabenschlag, die Primgeigerin, sah sich genötigt, für Aufmerksamkeit und Zuspruch zu danken, um dann zu Recht festzustellen, dass nach der „Verklärten Nacht“ einfach keine Zugabe möglich sei. Nun war der Abgang der Musiker durch den Mittelgang der Kirche ein ganz anderer, das Publikum zu beiden Seiten stand jetzt Spalier.
Ein bisschen Mithelfen, ein bisschen Verabschieden, dann ging es in der Abendsonne mit dem Auto zurück nach Hamburg, mit erstaunlich wenig Reisebus-Gegenverkehr zwischen Bremen und Hamburg. Mit größter Überzeugung kann ich behaupten: Bald bin ich wieder da – die kommenden „Langen Nächte“ und ein darauffolgender Sonntagnachmittag im Dornumer Wasserschloss werfen ihre Schatten voraus.