Olli Schulz, einer der besten Singer-Songwriter Deutschlands, erzählt auf seinen Konzerten gerne eine bestimmte Anekdote aus seiner Zeit als Roadie (Techniker) für Peter Maffay: Beim Soundcheck eines Open-Air Konzertes ist Maffay gereizt. Irgendetwas passt ihm nicht; der Sound klingt auf der Bühne nicht gut. Mit seiner unnachahmlichen Stimme knödelt er ins Mikro und fragt den Techniker: „Was ist das für ein Geräusch?“ Der Techniker antwortet: „Peter, das ist der Regen!“. Maffay antwortet: „Stell das ab“.
Was für Regen gilt, gilt auch für Lüftungen. Sie lassen sich nicht einfach abstellen. Sie sind zwar lästig, aber notwendig. Womit wir beim Auftaktkonzert der Gezeitenkonzerte im Emder VW Presswerk angelangt sind.
Das Presswerk hat eine geradezu kathedralenhafte Weitläufigkeit, ist hochkomplex, brachial laut und ist ein bis in den letzten Zentimeter durchdachtes Paradebeispiel von Ingenieur-Kunst. Auch wenn das Konzert nur am Rande des Hochsicherheitstraktes ablief, konnte man die Ausmaße des VW-Werkes erahnen. Diesen hochfunktionalisierten Maschinensaurier ruhig zu stellen, bedarf zwar nur einiger Computerbefehle, doch lässt sich so eine Riesenpresse auch ins pianissimo herunter drehen? Klare Antwort: Nein! Ein Rauschen bleibt. Die Lüftung muss arbeiten. Hätten wir das wissen müssen? Eventuell. Hat es das Konzert beeinträchtigt? Ich denke nicht.
Wir müssen uns fragen: Was hat klassische Musik an diesem Ort zu suchen? Ich würde sagen: alles. Akustisch berührten sich am Freitagabend zwei Künste, die im Alltag aufs Engste verknüpft sind. Setzen wir uns ins Auto, drehen wir seit bald hundert Jahren das Autoradio an. Wir drehen es nicht unbedingt an, um die Geräusche des Autos oder des Verkehrs zu übertönen, sondern um die Musik im Moment der Bewegung zu hören. Die Geschwindigkeit verleiht der Musik einen besonderen mobilen Glanz, denn auch Musik ist immer Bewegung. Die Musik verwandelt die Autofahrt in ein Konzert von höchster Audiovisualität. Der Autoliebhaber schätzt gerade die Verbindung von Motorgeräusch und Musik. Wo klingen Whitesnake besser als in einem Chevrolet Achtzylinder mit blubberndem, körperlich spürbarem Generalbass? Die Frage ist also naheliegend: Warum nicht ein Konzert in der Geburtsstätte hören, wo der Ausgangspunkt dieser ganz besonderen Verbindung von Musik und Auto liegt?
Roland Barthes schrieb in seinen „Mythen des Alltags“ über das Auto als Kunstwerk: „Ich glaube, daß das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist. Ich meine damit: eine große Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet.“
Magie, und damit kommen wir endlich zur Musik des Abends, war in jedem Takt zu spüren, den das Ensemble Allegria und die Trompeterin Tine Thing Helseth spielten. Das Ensemble hat einen Klangkörper von solch einer schwebenden Eleganz, dass man die harte Arbeit dahinter an keiner Stelle merkt. Gleiches gilt für Tine Thing Helseth. Solo-Trompete? Ein Instrument, das man eigentlich eher im Jazz schätzt, wo es auch mal gerne unsauberer zugehen darf. Doch Helseth ist wahrlich einzigartig. Bachs Konzert in D-Dur BWV 972 und Albinonis Konzert d-Moll op. 9/2 machen süchtig nach Helseths Klang. Wie lassen sich solche weichen, perfekt akzentuierten Töne aus diesem Instrument holen? Technik, das gilt für Autos wie für Musik, ist alles. Doch große Kunst gelingt nur den wenigsten.
Absolut begeistert zeigten sich daher die Aufnahmetechniker von NDR Kultur. Der Radiomitschnitt gelang ausgezeichnet und man darf sich auf eine erstklassige Qualität (natürlich im Autoradio) freuen.
Die Presseschau und auch die Zuschauerreaktionen zeigen nach dem Konzert ein unterschiedliches Stimmungsbild. Manche waren tatsächlich verärgert über die Klangkulisse, andere beklagten die Sterilität des Ortes. Aber die meisten äußerten sich begeistert über das Experiment und vor allem über die Künstler, die trotz allem gewaltigen Drumherum immer im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit standen.
Mutig war es auf jeden Fall, und VW hat einen großartigen Job gemacht. Es ist doch eigentlich wunderbar, dass klassische Musik nicht nur in Konzertsälen und der heimischen Anlage gespielt wird. Sie gehört in den Alltag, ins Autoradio, in die Presshalle, den Supermarkt. So bleibt sie im Gespräch, in Bewegung und Veränderung. Im Wesen der Musik liege es, Freude zu bereiten, zitierte Matthias Kirschnereit den Philosophen Aristoteles. Das Auftaktkonzert war eine wahre Freude. Angenehm überraschend, gewagt und einzigartig. Um 22:00 Uhr lief dann die Presse nach Plan wieder an. Die Passat-Produktion wurde wieder aufgenommen. Der Zündschlüssel für die Gezeitenkonzerte der Ostfriesischen Landschaft 2014 wurde da erst endgültig umgedreht. Die Musik, sie läuft.